Zeitgeschichte: Erschossen in Moskau

profil fand die Verwand- ten Stalins letzter Opfer

Drucken

Schriftgröße

1. Die Toten ruhen nicht

Er hat schon viel gesehen. Sibirien zum Beispiel mit 17. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte den jungen Steirer 1952 zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er in Wien-Mariahilf antisowjetische Flugblätter verteilt hatte. Horst Lederer weiß, was Schmerz ist. Er selbst kam 1955 nach dem Staatsvertrag nach Österreich zurück. Seine Mutter nicht. Sie war mit ihm zusammen zum Tode verurteilt worden. In Moskau wurde sie hingerichtet. Der Sohn hat erst vor Kurzem erfahren, was mit Isabella Maria Lederer genau passiert ist.

Ende Mai ist er nach Moskau gefahren. Der hochgewachsene, schlanke Herr tritt an den Rand des Massengrabes am Donskoje-Friedhof in Moskau. Er sagt kein Wort. Die Sonnenbrille schützt seine Augen.

Eine heiße Maisonne brennt auf die Gräber. Die Bäume spenden nicht genug Schatten. Zigtausende Opfer des Stalinismus wurden hier verbrannt, ihre Asche kippten die Wärter mitten in der Nacht in den Friedhofsgarten. 2007 gedenkt das russische Regime nur ungern der Opfer des stalinistischen Terrors. Präsident Wladimir Putin arbeitet an der Renaissance des paranoiden Geheimdienststaates und tut nicht einmal so, als gehöre die Geschichte der Vergangenheit an.

Horst Lederer ist nicht allein auf den Donskoje-Friedhof gekommen. Begleitet haben ihn Grazer und Moskauer Historiker, die gemeinsam die bisher geheimgehaltenen Erschießungen der letzten österreichischen Stalin-Opfer aufarbeiten (siehe Kasten). Rund 80 Österreicher wurden zwischen 1950 und 1953 in der sowjetischen Besatzungszone wegen Spionage zum Tod verurteilt. Ihr Verbrechen: Sie hatten Flugblätter verteilt oder Nummerntafeln sowjetischer Militärfahrzeuge notiert. Sie wurden nach Moskau gebracht und im Butyrski-Gefängnis erschossen. Nach Stalins Tod im März 1953 hörten die Erschießungen auf.

Die Forscher haben in den vergangenen Monaten mehr darüber erfahren, warum diese Österreicher sich überhaupt von amerikanischen oder französischen Agenten anwerben ließen. Die meisten spionierten aus Not oder Unwissenheit. Unter Stalins letzten Opfern finden sich aber auch einige, die mit dem Dritten Reich sympathisierten. Dennoch soll den namenlosen Toten ihre Biografie zurückgegeben werden. Nächstes Jahr wird – so der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow zustimmt – den Toten am Donskoje-Friedhof ein Gedenkstein gesetzt. Weder über ihre politische Orientierung noch über die Umstände ihrer Ermordung soll weiter geschwiegen werden.

„Und wissen Sie, wer hier auch noch begraben liegt?“, fragt Memorial-Chef Arseni Roginski im Sinne dieses Projekts und führt zu einem gepflegten Grab am Eingang des Friedhofes. „Wassili Michailowitsch Blochin war von 1924 bis 1953, also rund dreißig Jahre bis zu Stalins Tod, für die Erschießungen von Staatsfeinden verantwortlich.“ Roginski demonstriert mit klaren Gesten, wie Blochin sich gerne auch – mit ellenbogenlangen Handschuhen und Plastikschürze geschützt – selbst am Morden beteiligte.

Es wird noch heißer im Schatten der Bäume. Horst Lederer stellt keine Fragen. Er fotografiert das Geschehen, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen.

2. Wen der Zugfimmel treibt

Im Reihenhausgarten in Wien-Simmering haben die Bugers ein Schwimmbad, im Keller eine Modelleisenbahn. Das Bassin ist für Karin, die Eisenbahn für ihren Mann. Frau Bugers Lust am Schwimmen wird in der Familie nicht auf die Ereignisse von 1950 zurückgeführt. Die Vorliebe des Hausherrn dagegen erklärt die Gattin, während sie in der Küche Zwiebel anbrät und dabei eine Zigarette raucht: „Mein Mann hat einen Zugfimmel, das ist völlig klar.“

Günter Buger war zehn Jahre alt, als die Russen seinen Vater verschleppten. Stephan Buger war Fahrdienstleiter bei der österreichischen Eisenbahn. „Ich war oft bei ihm in Tullnerbach“, erinnert sich der heute bereits pensionierte Spediteur. „Damals war alles noch händisch. Ich hab gerne den Schranken runtergelassen.“ Weil aber ein Ei am Schwarzmarkt teuer war und Buger senior nur 690 Schilling im Monat verdiente, ließ er sich 1947 von einem französischen Geheimdienstoffizier anwerben und gab diesem bei fünf Treffen detaillierte Informationen über die Häufigkeit und Fracht der sowjetischen Güterzüge an der Oststrecke weiter.

Zumindest steht es so in seinem Gnadengesuch vom 1. April 1952. Sein Akt wurde von den Wissenschaftern im Staatsarchiv in Moskau gefunden. Sohn Günter weiß, wie hart die Nachkriegszeit war: „Wir hatten eine Einzimmerwohnung. Ich hatte kein eigenes Bett.“ Im Zuge des beginnenden Kalten Krieges gerieten viele in Stalins Todesmaschinerie, weil die Armut sie in die Arme westlicher Geheimdienste getrieben hatte. Außerdem: Wer wollte schon die Russen im Land haben, die als Diebe und Vergewaltiger gefürchtet waren? Nazi war Buger jedenfalls nicht – aber nur deshalb, weil die NSDAP seinen Antrag auf eine Mitgliedschaft 1940 abgelehnt hatte. Er habe den Antrag aus opportunistischen Gründen gestellt, weil er Angst vor erneuter Arbeitslosigkeit hatte, schreibt Buger im Gnadengesuch. Grund der Ablehnung damals: Buger sei „Marxist“. Bis zum Besuch von profil vorigen Montag war der Familie Buger aber auch nicht völlig klar, ob Buger am 24. Jänner 1952 nicht vielleicht doch wegen Kriegsverbrechen verhaftet worden war, erzählt der Sohn: „Wir haben halt immer wieder spekuliert, ob er vielleicht als Fahrdienstleiter einen Zug mit Juden ins KZ gebracht hat.“

Vorsichtig beäugt Günter Buger die Kopien der russischen Dokumente. Dass der Vater kein Kriegsverbrecher war, erleichtert ihn. Seine Rolle als antisowjetischer Spion und seine Erschießung vor 55 Jahren in Moskau bringt den Sohn nicht von seinem Plan ab, nächstes Jahr mit seinen Kumpels mit der transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok zu fahren. Im Gegenteil. „Dann könnte ich auch auf den Donskoje-Friedhof gehen“, sagt Günter. Seine Frau will nicht mitfahren. Sie bleibt lieber bei den Enkerln, beim Hund und am Pool in Simmering. Sie hat keine besondere Beziehung zu Zügen.

3. Angst und Ohnmacht

Stefan Haidenthaller saß über dem Nachlass seiner in London verstorbenen Lieblingstante Hertha Haworth, als ihm ein Artikel aus der Grazer „Neuen Zeit“ aus dem Jahre 1951 in die Hände fiel. Darin wurde über die Verhaftung von Erwin Crewato berichtet. Haidenthaller verglich ihn mit dem Namen, der auf der Erschossenen-Liste in profil (profil 07/2007) publiziert worden war. Edwin Krewato war Erwin Crewato – ein Transkriptionsfehler aus dem Russischen konnte nicht verhindern, dass Haidenthaller daraufhin Einblick in die letzten Monate des angeheirateten Onkels gewann. Denn seit der Verhaftung hatten die Verwandten nichts erhalten außer einer Todesmeldung 1956, wonach Crewato an einem „Bluterguss im Gehirn aufgrund der Arteriosklerose“ verstorben war.

Der Beamte bei der Finanzlandesdirektion in Wien hatte – den in Moskau eingesehenen Dokumenten zufolge – von 1946 bis 1949 mit dem französischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Er sammelte Material über Mineralöl-Betriebe, die Produktionskapazitäten und den Abtransport von Maschinen gen Osten. Der in Rumänien geborene Crewato war „Monarchist und kein Nazi“, meint Neffe Haidenthaller. Er hatte wohl eher versucht, seine materielle Not zu lindern. Als die Sowjets ihn aus einem Beamtenerholungsheim in Waidhofen an der Ybbs heraus am 30. November 1951 verhafteten, war die Verwandtschaft geschockt und ahnungslos. Crewato hatte sich im Buchenbergheim von einer Lungenentzündung erholt. Neffe Stefan hat im Nachlass der Tante die Briefe von Freunden aus der sowjetischen Besatzungszone in Wien gefunden, aus denen pure Angst und Ohnmacht spricht: „Man kann leider so gar nichts machen!“ Die als hysterisch geltende Schwester Gisi wurde davon abgehalten, bei den Behörden Krach zu schlagen. Aus Vorsicht sind alle Namen in den Briefen abgekürzt.

Erwin Crewato blieb verschwunden. „In der Familie hieß es, er sei einer Verwechslung zum Opfer gefallen“, meint Haidenthaller. Für möglich hielt die Verwandtschaft auch, dass ihm die Verbindung zu SS-Hauptsturmführer Heinz Riegler, seinem Schwager, zum Verhängnis geworden war.

In den Briefen Crewatos an seine Frau Hertha, die in den Nachkriegsjahren viel Zeit bei ihrer Mutter in Bad Ischl verbracht hatte, findet sich nur ein Hinweis auf die Verbindung mit einem ausländischen Agenten. Crewato berichtet von einem Treffen seiner Burschenschaften Ottonia Wien und Danubia Graz: „Ich habe viel mit George gesprochen, der doch ein völlig Außenstehender und Ausländer ist. Er fand den Abend weder lächerlich noch wertlos.“ In seinem Gnadengesuch erwähnt Erwin am 18. März 1952 den Namen seines französischen Führungsoffiziers: Adrienne George. Dieser Name taucht sonst nie wieder auf. Erwin Crewato aber wurde am 11. Juli1952 im Mos-kauer Butyrka-Gefängnis erschossen.

4. Sturschädel mit Hakenkreuz

Oben auf der prachtvollen Burg Grein, von der man einen herrlichen Blick über die ruhig vor sich hin fließende Donau hat, sah Karl Kolber seinen Vater zum letzten Mal. Nachdem ihn ein österreichischer Gendarm aus der Bäckerei im Ort geholt und auf die sowjetische Kommandatur ins Schloss gebracht hatte, steckte man den Bäckermeister in einen Kastenwagen. „Er hat krawallisiert“, erinnert sich der heute 87-jährige Sohn. „Ich hab a Scheppern ghört. Dann war er staad, der Vater.“ Der Kastenwagen fuhr vom Schloss weg, Karl Kolber schrie: „Ihr Hunde, ihr verfluchten, lassts den Vater da!“

Doch Alois Kolber war für immer fort. Wegen Spionage zum Tode verurteilt, wurde er am 15. März 1950 in Moskau erschossen. Der Bäckermeister aus Grein hatte mit der Gruppe um Alexander Achtirksi für die Amerikaner spioniert. Kolber warb laut sowjetischen Dokumenten einen Herrn Planer an, um die sowjetischen Kapazitäten im Raum Baden auszuspionieren. Kontakt zu den US-Agenten hatte Kolber 1946 geknüpft, als er im Gefängnis saß. Ein österreichisches Gericht hatte ihn verurteilt, weil er seinen eigenen Bruder Anton wegen des Hörens von Feindsendern im Krieg denunziert hatte.

Der Bäcker Kolber dürfte überhaupt ein „Sturschädel“ gewesen sein, meint sein Enkel Alois, der Hobbyhistoriker der Familie. 1946 zum Beispiel konnte man Kolber senior immer noch in den Straßen von Grein in der Landsturmuniform herumstolzieren sehen. Weigerte er sich, das Ende des Dritten Reiches zu akzeptieren? Oder wollte er sich nur nicht sagen lassen, was er anzuziehen hatte? Später, von den Sowjets schon zum Tode verurteilt, verzichtete Alois Kolber auf ein Gnadengesuch. In den meisten Fällen stellten sich diese Schreiben tatsächlich als sinnlos heraus. Kolber wollte wohl dem Feind nicht die Genugtuung verschaffen, dass er um sein Leben bettelt.

Seine Kinder und Enkel leben bis heute in dem Haus, wo einst die Bäckerei war. Oben wohnt Enkel Alois. Er hütet die Familiengeschichte und das große Fotoalbum von Alois senior. Dort hatte der Bäckermeister am Schluss ein Bild von seinem Sohn Sepp eingeklebt, der 1943 an der Ostfront gefallen war. „Vielleicht hat der Großvater deshalb gegen die Sowjets spioniert?“, überlegt Alois. Er selbst hat für die Firma Schrack Russland in den letzten Jahren oft und gerne bereist. Wenn das Forschungsprojekt von Memorial, Boltzmann-Institut und profil abgeschlossen ist, möchte Kolber nach Moskau kommen, um bei der Gedenksteinsetzung am Donskoje-Friedhof dabei zu sein: „Mir gefällt die Mentalität der Russen.“ Und auch die Idee, dass die Biografie der erschossenen Österreicher in ihrer Komplexität aufgearbeitet wird. Denn über die politischen Verrenkungen in seiner Familie kann Alois junior ein Lied singen.

Unter ihm im Mittelstock wohnen die alten Eltern. Der Vater hört schon sehr schlecht. Aber er erinnert sich noch gut an früher. Zwischen Fernseher und Bett hängt eine Fotografie, auf der er mit seiner Mutter zu sehen ist. Karl Kolber steht da in der Arbeitsdienstuniform. Komplett mit Hakenkreuz-Schleife. „Zur Erinnerung an die Mutter“, meint er und lächelt vergnügt.

Von Tessa Szyszkowitz

Bei Anfragen wenden Sie sich bitte an das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Geschichts-Cluster, Schörgelgasse 43, 8010 Graz,
E-Mail: [email protected]