Zum Schweigen verführt

Frankreich. In Paris kursierten schon lange Vorwürfe, Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn belästige Frauen

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Es geht um einen Mann und dessen Schuld oder Unschuld. Bei der Gegenüberstellung stand er als dritter in einer Reihe von fünf Männern. Als Untersuchungshäftling trägt er die Nummer 09132366L. Sein Name ist Dominique Gaston André Strauss-Kahn. Alle Welt nennt ihn DSK, und alle Welt kennt ihn, weil er bis vergangenen Mittwoch Direktor des Internationalen Währungsfonds war, davor französischer Finanzminister. Kommendes Jahr wäre er vielleicht Frankreichs Staatspräsident geworden. Die New Yorker Staatsanwaltschaft hat ihn wegen versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung einer Angestellten des New Yorker Hotels Sofitel angeklagt.
DSK wird allein auf der Anklagebank sitzen, natürlich. Aber in der Öffentlichkeit wird eine weitere Frage abgehandelt, nämlich jene, ob noch jemand Mitverantwortung daran trägt, dass der mächtige Politiker zum allerersten Mal Rechenschaft für sein Sexualverhalten ablegen muss; ob nicht jahrelang ein großer Kreis von Eingeweihten zumindest Verdachtsmomente für sich behielt; und ob es nicht ein absurder gesellschaftlicher Konsens ist, genau dieses Schweigen auch noch als moralischen Akt zu verkaufen.

„Mon Dieu!“, exklamierten die guten Freunde zu Hause in Paris, als sie zu den Vorwürfen gegen Strauss-Kahn befragt wurden. Diese Affäre passe „gar nicht zu DSK“, versicherten der sozialistische Abgeordnete Jean-Marie le Guen und viele seiner Kollegen. Schockiert und ungläubig zeigten sich alte Weggefährten wie Parteichefin Martine Aubry, Ex-Finanzminister Laurent Fabius und Ex-Kulturminister Jack Lang.
DSK hatte einen Ruf, aber keinen schlechten. Er sei ein „eingefleischter Verführer“, ist in seiner Biografie („Le Roman vrai de Dominique Strauss-Kahn“ von Michel Taubmann) zu lesen, und er werde „von den Frauen verfolgt“. Seine Ehefrau, die bekannte Publizistin Anne Sinclair, antwortete einmal auf die Frage, ob sie darunter leide, dass ihr Mann die Reputation eines Verführers habe: „Nein, darauf bin ich eher stolz! Es ist wichtig für einen Politiker zu verführen.“
Alles kein Problem also, DSK bekam das Image des virilen Charmeurs, des French Lovers und des „homme à femmes“ verliehen, wenn er auch in den Worten der Tageszeitung „Le Figaro“ beim Genießen „ein klein wenig zwanghaft“ schien.

Besser konnte man die Episoden, die über Strauss-Kahn erzählt wurden, nicht verharmlosen. Denn was Frauen über Strauss-Kahn zuweilen berichteten, hatte mit Verführung ungefähr so viel gemeinsam wie ein Bekennerschreiben der ETA mit einem Liebesbrief.

Im Jahr 2007 beschrieb die junge Publizistin Tristane Banon in einer TV-Sendung, wie sie Strauss-Kahn zu einem Interview traf, das auf Vorschlag des Politikers in einer Wohnung stattfinden sollte. Banon gab an, Strauss-Kahn sei über sie hergefallen, habe ihr gewaltsam den BH geöffnet, und sie sei nur nach heftiger Gegenwehr entkommen. In ihrer Schilderung nannte sie DSK beim Namen, doch der Sender anonymisierte diese Passage bei der Ausstrahlung mittels Pieptönen.
Was Banon behauptete, muss nicht wahr sein. Sie verzichtete auf eine Anzeige, weil sie nach eigenen Worten „nicht als die Frau Berühmtheit erlangen wollte, die ein Problem mit Strauss-Kahn hatte“. Banons Mutter, eine sozialistische Mandatarin, riet ihrer Tochter von einer Klage ab. Sie bereue das heute, sagte sie vergangene Woche in einem Interview.
Kein Journalist ging der Sache nach, obwohl jeder wissen musste, von wem die Rede war.

Keine andere Frau äußerte sich so offen über ihre angeblichen Erfahrungen mit DSK. Andere zogen es vor, anonym zu bleiben. Eine sozialistische Abgeordnete berichtete von ihrer Angst, sich mit DSK allein in einem Raum aufzuhalten.

Dass DSKs Annäherungsversuche „oft an Belästigung grenzen“, schrieb 2007 der französische Journalist Jean Quatremer in seinem Blog. Strauss-Kahn war zu diesem Zeitpunkt Kandidat für den IWF-Vorsitz, und Quatremer wies darauf hin, dass die sexuellen Impulse des Politikers ein Risiko darstellten, da die Medien in den USA ¬solche Vorfälle recherchierten. Quatremer sollte Recht behalten. Im Oktober 2008 ¬enthüllte das „Wall Street Journal“, dass Strauss-Kahn mit einer IWF-Mitarbeiterin eine – den Regeln des IWF zuwiderlaufende – sexuelle Beziehung unterhielt, wobei er nach den Angaben der Frau „seine Position missbraucht hatte, um das Verhältnis zu beginnen“. Die Affäre blieb letztlich folgenlos, Strauss-Kahn entschuldigte sich.
Quatremers Warnung hatte in den großen französischen Medien keinerlei Resonanz gefunden. Nur ein Mitarbeiter von Strauss-Kahns Kommunikationsteam rief den Journalisten an und forderte ihn – vergeblich – auf, den Blog-Eintrag zu löschen.
Die Franzosen sind stolz darauf, die Privatsphäre von Politikern zu respektieren. Über außereheliche Beziehungen und dergleichen verlieren Medien aus Prinzip kein Wort. Legendär ist etwa das Geheimnis um die uneheliche Tochter des einstigen Staatspräsidenten François Mitterrand, das erst nach 20 Jahren gelüftet wurde, obwohl viele Journalisten längst eingeweiht gewesen waren.

Als in den USA 1998 die Affäre des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit der Praktikantin Monica Lewinsky bekannt wurde und in einem Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton gipfelte, schüttelte ganz Frankreich ungläubig und spöttisch den Kopf. Solcher Puritanismus, der Politiker wegen ihrer sexuellen Beziehungen juristischer und medialer Verfolgung aussetzt, widerstrebt der libertären Tradition der Franzosen. Sie fühlen sich in dieser Hinsicht den Amerikanern unendlich überlegen.
Diese Haltung hat einiges für sich. Das Geschnüffel von Journalisten in den Beziehungskisten der Politiker ist ein unelegantes Geschäft und Amtsträger daran zu messen, ob sie ihre Partner betrügen, ein kindisches Kriterium für Kompetenz.

Aber der Vorwurf, Frauen zu belästigen, zu bedrängen und gewaltsam zum Geschlechtsverkehr nötigen zu wollen, ist nicht Bestandteil der schützenswerten Privatsphäre. Dass die französischen Medien solche Anschuldigungen nicht aufgreifen, ist keine Tugend, sondern ein Versagen. Dass Politiker darüber schweigen, ist ebenso unverständlich. Dass Frauen in diesem Klima ein Gerichtsverfahren scheuen, überrascht nicht.

Tristane Banon wurde vergangene Woche von Bernard-Henri Lévy beschuldigt, „eine goldene Gelegenheit zu wittern, um ihre alte Geschichte hervorzukramen“. Der Kritiker des „puritanischen Irrsinns“ bezeichnet die Affäre DSK in einem Interview mit der „Zeit“ als „eine Treibjagd auf einen Mann, von dem viele Leute entzückt wären, wenn man ihn erledigte“.

Alles Mitgefühl geht an die Adresse des Angeklagten. François Hollande, der derzeit aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat der Sozialisten für die Wahlen im kommenden Jahr, sagte: „Ich denke zuerst an ihn, Dominique Strauss-Kahn, an seine Nächsten, an seine sozialistischen Freunde, die von diesem Ereignis erfahren, ohne es zu verstehen, aber es ermessen, und schließlich an die Franzosen, die heute morgen beim ¬Aufstehen diese Information im Radio gehört haben.“ An das mögliche Opfer dachte er nicht.

In ihrem Buch „Sexus politicus“ schreiben die Autoren Christophe Deloire und Christophe Dubois, François Hollande habe Tristane Banon nach dem Vorfall mit Strauss-Kahn persönlich getröstet.
Nun setzt in der Öffentlichkeit ein Umdenken ein. Die Tageszeitung „Libération“ erhob vergangenen Donnerstag in ihrem Editorial die Forderung nach Aufklärung darüber, was die Führung der Sozialistischen Partei über die problematischen Beziehungen Strauss-Kahns zu Frauen gewusst hat. Das Blatt „Le Figaro“ wiederum fragte seine Leser: „Sollen die französischen Medien verstärkt das ¬Privatleben von Amtsträgern recherchieren?“ Zwischenergebnis der nicht repräsentativen Online-Umfrage: 65 Prozent sagen Ja.

Kein Wunder. Politiker und Journalisten sollen nicht stumme Mitwisser sein. Sie sollen Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Im Fall DSK haben sie sich zum Schweigen verführen lassen.
Diese Erkenntnis verdankt die Nation ihrem gefallenen großen Sohn, DSK, dem „Freund der Frauen“, wie ihn Bernard-Henri Lévy weiterhin unbeirrt nennt.

Die Justiz beurteilt das Verhalten eines Individuums. Hat Strauss-Kahn in der Suite 2806 das Zimmermädchen zu sexuellen Handlungen zu nötigen versucht? Es gilt die Unschuldsvermutung.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur