Sebastian Kurz nach dem rechtskräftigen Freispruch im Justizpalast in Wien

Tonband aus dem U-Ausschuss: Wie das Kurz-„Ja“ wirklich klingt

Ex-Kanzler Sebastian Kurz wurde rechtskräftig freigesprochen – laut OLG hat er die entscheidende Frage im U-Ausschuss richtig und vollständig mit „Ja“ beantwortet. Zweifel daran wecken allerdings nicht nur Angaben von Kurz im Verfahren, sondern insbesondere auch eine Tonaufnahme aus dem Ausschuss.

Drucken

Schriftgröße

Sebastian Kurz ist freigesprochen – rechtskräftig. Daran ist nicht zu rütteln. Am vergangenen Montag kippte das Oberlandesgericht (OLG) Wien einen in erster Instanz erfolgten Schuldspruch gegen den Ex-Kanzler wegen des Vorwurfs der Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss im Jahr 2020. Grund für die andere juristische Bewertung: eine semantisch andere Interpretation der damaligen Aussage durch die zweite und letzte Instanz – und des kleinen Wörtchens „Ja“. Mit diesem „Ja“ hätte Kurz die gestellte Frage „richtig und vollständig“ beantwortet, meint das OLG. Alles andere zählt nicht.

Wie konnte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in einer so simplen Frage vier Jahre lang danebenliegen? Und im Vorjahr dann auch noch das Gericht in erster Instanz? profil liegt zur entscheidenden Passage die offizielle Tonaufnahme des Parlaments aus dem damaligen Untersuchungsausschuss vor. 

Und plötzlich wirken die Interpretations-Schwierigkeiten nicht mehr ganz so überraschend.

Mitschnitt aus dem U-Ausschuss

Zunächst erklingt auf dem Mitschnitt eine mit ruhigen Worten vorgetragene Fragestellung: „Haben Sie allgemein Wahrnehmung zur Frage, wie der Aufsichtsrat besetzt wurde? Waren Sie da selbst eingebunden?“ So formuliert es die NEOS-Nationalratsabgeordnete Stephanie Krisper mit Blick auf die Bestellung des Aufsichtsrats der Staatsholding ÖBAG im Frühjahr 2019. 

Kurz – bei seinem Auftritt im U-Ausschuss noch Bundeskanzler und ÖVP-Chef – beginnt seine Ausführungen dazu dann zwar schon mit dem Wörtchen „Ja“– so steht es auch im schriftlichen Protokoll. Die Tonaufnahme gibt freilich Auskunft darüber, wie genau dieses Wort ausgesprochen und eingesetzt wurde.

Das knappe „Ja“-Wort

Das „Ja“ fällt extrem knapp aus. Das „a“ ist dabei nicht so hell gefärbt, wie es bei einer dezidierten Bejahung oft zu hören ist – eher dunkel im Dialekt, wie bei einer Einleitungsfloskel am Beginn einer längeren Ausführung. Und tatsächlich hängt Kurz das nächste Wort – „ich“ – sehr knapp an das „Ja“ dran. Erst danach hält er einen minimalen Moment inne, um in der Folge allgemeine Ausführungen zu Protokoll zu geben.

Die vollständige Aussage lautete laut Protokoll: „Ja, ich weiß, dass es da im Finanzministerium und im zuständigen Nominierungskomitee Überlegungen und Gespräche gab. Bei Aufsichtsratsbestellungen wird man als Bundeskanzler – manchmal mehr, manchmal weniger informiert. Grundsätzlich treffen die Minister, die zuständig sind, ihre Entscheidungen. Im Regelfall werde ich danach informiert, manchmal werde ich vorher um die Meinung gefragt.“

Als das Thema ÖBAG-Aufsichtsräte knapp zwei Stunden später im Ausschuss nochmals aufs Tapet kam, sagte Kurz: „Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass Personen, die ausgewählt werden, immer qualifiziert sein müssen. Ich möchte darüber hinaus festhalten, dass die Entscheidung, wer im Aufsichtsrat der ÖBAG sitzt, nicht ich als Bundeskanzler treffe, sondern wenn, dann der Finanzminister beziehungsweise das Nominierungskomitee.“

Erste Istanz vs. OLG

Die WKStA und das Landesgericht Wien als Gericht in erster Instanz gingen – zusammengefasst – davon aus, dass Kurz auf diese Weise seine tatsächliche Involvierung in die Aufsichtsratsbesetzung aus politischen Gründen unzulässig heruntergespielt hätte. Zu diesem Schluss kam das Gericht nach zahlreichen Zeugenbefragungen und der Befassung mit Chat-Nachrichten verschiedener Personen. In seiner mündlichen Urteilsbegründung am 23. Februar 2024 meinte Erstrichter Michael Radasztics, Kurz habe mit seiner Aussage im U-Ausschuss den Eindruck erweckt, seine Einbindung hätte sich darauf reduziert, dass er nur um seine Meinung gefragt worden wäre. Das habe „im Beweisverfahren keine Deckung“ gefunden, sagte Radasztics: „Es geht nicht um die Entscheidung, sondern um die Einbindung in diesen Prozess – und die war weitaus mehr, als Sie dargestellt haben.“

Für das OLG Wien spielte das nun hingegen alles keine Rolle mehr. Aus Sicht des OLG ist mit dem „Ja“ praktisch alles gesagt. Im Zuge der Urteilsbegründung erläuterte der Vorsitzende des Dreier-Senats, dass man sich bei der Entscheidung nicht auf das schriftliche Protokoll verlassen habe, sondern auch die Aufnahme gehört – und ein Video angesehen hätte. Ein Video liegt profil nicht vor. In der erstinstanzlichen Verhandlung am Landesgericht Wien wurde kein Video gezeigt. Was auf einer allfälligen Bildaufnahme zu sehen sein könnte, das dem Wort „Ja“ eine klarere – und tendenziell andere – Bedeutung verleiht als auf dem Audio-Mittschnitt, ist offen.

IBIZA-U-AUSSCHUSS: KURZ

Was Kurz selbst sagte

Doch es ist nicht nur die phonetische Interpretation der Tonaufnahme, die doch gewisse Zweifel an der formalistisch knappen Beurteilung durch das OLG weckt. Auch Aussagen, die Sebastian Kurz selbst getroffen hat, wollen nicht so recht zu der Reduktion auf ein simples „Ja“ passen.

Was hat Kurz seiner eigenen Meinung zufolge mit seinen Aussagen im U-Ausschuss gemeint? Im September 2021 wurde der damalige Kanzler im Zuge des Ermittlungsverfahrens als Beschuldigter einvernommen. profil liegt das 143 Seiten starke Protokoll vor. Diesem zufolge fasste Kurz den Inhalt seiner eigenen U-Ausschuss-Aussage zum Thema ÖBAG-Aufsichtsrat folgendermaßen zusammen: „Ich habe auf die Frage, ob ich eingebunden war, mit ‚Ja‘ geantwortet. Ob ich eingebunden war, habe ich gesagt ‚Ja‘. Aber auf die Frage, wer sie entschieden hat, da habe ich gesagt: ‚Hartwig Löger‘ (Anm.: der seinerzeit formal zuständige Finanzminister).“ Im Verlauf der Vernehmung bekräftige Kurz das mehrfach: „weil ich habe auf die Frage, ob ich eingebunden war, gesagt: ‚Ja‘ und ich habe auf die Frage, wer es entschieden hat, gesagt ‚der Hartwig Löger‘“ / „Auf die Frage, ob ich eingebunden war, habe ich mit ‚ja‘ geantwortet. (…) Die Entscheidung selbst hat Hartwig Löger getroffen.“ / „Die Frage, ob ich eingebunden war, die habe ich mit ‚ja‘ beantwortet. (…) Die Frage der Entscheidung ist eindeutig, - formell sowieso bei Hartwig Löger und faktisch auch bei Hartwig Löger, sonst hätte es ja wer werden müssen, den ich vorgeschlagen habe.“ / „eingebunden ja, entschieden Hartwig Löger“.

In einer von Sebastian Kurz zusätzlich auch schriftlich eingebrachten Stellungnahme hieß es: „Ausgewählt wurden die Aufsichtsräte vom Finanzminister Löger, der diese auch bestellt hat. Die Frage, ob ich eingebunden war zur Frage, wie der Aufsichtsrat besetzt wurde, habe ich klar und eindeutig mit ‚Ja‘ beantwortet.“

Kurz selbst hat also bereits damals mit dem Wörtchen „Ja“ argumentiert. Er hat seiner eigenen Aussage jedoch auch einen zweiten inhaltlichen Aspekt beigemessen: die Rolle Lögers im Unterschied zu seiner eigenen. In der Urteilsbegründung für den erstinstanzlichen Schuldspruch spielte dieser Punkt eine wichtige Rolle. Radasztics meinte nach zwölf Tagen Hauptverhandlung, Löger habe sich im Rahmen des Entscheidungsprozesses mit Kurz abgesprochen. Der Ex-Kanzler sei eben nicht nur um seine Meinung gefragt worden. Für das OLG spielt das nun gar keine Rolle mehr. Das knappe „Ja“ führt dazu, dass der Rest ausgeblendet wird.

Vollständig oder unterbrochen?

Ein wichtiger Punkt ist nicht nur die Richtigkeit der Aussage, sondern auch deren Vollständigkeit. Dass das „Ja“ tatsächlich eine vollständige Beantwortung der von Krisper gestellten Fragen darstellte, wie das OLG nun meint, scheint sich bei genauer Betrachtung nicht unbedingt mit der früheren Linie von Sebastian Kurz zu decken. In seiner Gegenäußerung (vulgo: Eröffnungsplädoyer) zum Anklagevortrag der WKStA im Verfahren erster Instanz führte Kurz-Verteidiger Otto Dietrich aus, sein Mandant habe die Frage zur Einbindung mit „Ja“ beantwortet. Dann sei Kurz von Krisper unterbrochen worden und habe seine Aussage nicht fortsetzen können. Kurz selbst sagte zu Prozessbeginn, er habe die Frage, ob er eingebunden war, mit „Ja“ beantwortet. Dann sei die Befragung genau an dieser Stelle unterbrochen worden und eine andere Parlamentsfraktion sei ans Wort gekommen: „Es kann ja wohl nicht sein, dass jetzt eine Unterbrechung schuld daran ist, dass mir Falschaussage vorgeworfen wird“, monierte Kurz vor Gericht.

Tatsächlich hatte Krisper seinerzeit im Ausschuss nach der allgemein gehaltenen Antwort von Kurz nachgehakt und den damaligen Kanzler darauf hingewiesen, dass sie „nicht nach dem Regelfall gefragt“ habe. Bevor sie eine neue Frage nachschießen konnte, wurde sie aber vom Ausschuss-Vorsitzenden Wolfgang Sobotka unterbrochen: „Die Zeit ist aus – zweite Runde.“ Nun stellt sich jedoch die Frage, weshalb diese von Kurz beklagte Unterbrechung überhaupt eine Rolle spielen sollte, wenn mit dem zuvor ausgesprochenen „Ja“ ohnehin alles richtig und vollständig beantwortet gewesen wäre.

Der unglückliche Zweite

Manchmal fällen Gerichte Entscheidungen zugunsten von Angeklagten mit Begründungen, an welche die Betroffenen zuvor so nicht einmal selbst gedacht hatten. Das ist auch völlig rechtens. Kurz schloss aus dem Freispruch am OLG mit Blick auf die jahrelangen Vorwürfe gegen seine Person jedenfalls, dass nun „alles in sich zusammengefallen sei“. Und er meinte: „Es ist das herausgekommen, was ich immer gesagt habe.“ Dem Grunde nach mag das stimmen. Im Detail lässt sich wohl darüber streiten. Unabhängig davon laufen gegen den Ex-Kanzler weiterhin umfangreiche Ermittlungen zum Vorwurf der Inseratenkorruption. Kurz bestreitet auch diesbezüglich sämtliche Vorwürfe.

Ein nicht unwesentlicher Nebenaspekt der OLG-Entscheidung vom vergangenen Montag ist, dass Sebastian Kurz zwar freigesprochen, aber sein früherer Kabinettschef Bernhard Bonelli rechtskräftig zu sechs Monaten bedingter Haft verurteilt wurde. Bonelli hat nach Ansicht des Gerichts im Ibiza-Ausschuss sehr wohl die Unwahrheit gesagt – und zwar kurioserweise zur Einbindung von Kurz in die Aufsichtsrats-Thematik bei der ÖBAG. Richter Michael Radasztics urteilte in erster Instanz, Bonelli habe seinen Chef „aus der Schusslinie nehmen“ wollen. Das OLG Wien bestätigte nun den Schuldspruch.

Wurde Bonelli verurteilt, weil er zugunsten von Kurz etwas verbergen wollte, das der Ex-Kanzler – demselben Gericht zufolge – aber bereits ein halbes Jahr zuvor mit einem simplen „Ja“ ohnehin ausreichend auf den Tisch gelegt hatte? Gräbt man sich durch die juristischen Details, mag dieser Schluss zu stark verkürzt sein. Etwas paradox wirkt die Angelegenheit dennoch. „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“, sprach Sebastian Kurz vor der Berufungsverhandlung in die zahlreichen Kameras im Wiener Justizpalast. Da hat er zweifellos die Wahrheit gesagt.

Stefan Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.