Türkei

Kemal Kılıçdaroğlu: Löst er Erdoğan ab?

Ein breites Oppositionsbündnis fordert den türkischen Präsidenten Erdoğan heraus. Das Ziel: eine Rückkehr zur Demokratie.

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Nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar dieses Jahres trauert die Türkei um 47.000 Tote. Über drei Millionen Menschen mussten ihre zerstörten Wohnorte verlassen. Schätzungen zufolge werden für den Wiederaufbau mindestens 100 Milliarden Euro benötigt. Und schon vor dem Erdbeben ging es den Menschen in der Türkei schlecht. Laut unabhängigen Wirtschaftsforschern soll die Inflation bei über 120 Prozent liegen.

In diesem Ausnahmezustand finden am 14. Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Sie werden eine Bewährungsprobe für Präsident Erdoğan sein, der Umfragen zufolge so schwach ist, wie nie zuvor.

Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Welche Bilanz hat Erdoğan vorzuweisen?
Recep Tayyip Erdoğan ist seit zwei Jahrzehnten mit seiner islamisch-konservativen AKP an der Macht. 2002 hat er ein „neues Zeitalter“ versprochen: den Beitritt der Türkei zur EU, die Demokratisierung des Landes, friedliche Beziehungen zu den Nachbarländern. Es kam anders. Nach einem Putschversuch im Jahr 2016 hat Erdoğan kurzerhand die parlamentarische Demokratie zugunsten eines Präsidialsystems ausgehebelt. Er hat Posten in Justiz und Verwaltung mit Günstlingen besetzt und politische Gegner ins Gefängnis sperren lassen. Beliebt ist der starke Mann der Türkei aber weiterhin, auch wenn die jüngsten Krisen ihn in den Umfragen zurückgeworfen haben.
Wird diese Wahl fair ablaufen?
In der Türkei gelten Wahlen zwar als frei aber nicht als fair. In der Vergangenheit beklagten Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) „ungleiche Bedingungen“, kamen aber zu dem Schluss, dass die Regeln „weitgehend eingehalten“ wurden. Ein fairer Wahlkampf ist aber schon allein deswegen nicht zu erwarten, weil die Regierung weite Teile der Medien kontrolliert. Im Vorfeld der Wahlen hat die türkische Justiz zudem Politikverbote gegen Oppositionelle verkündigt, darunter auch gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu.
Wer tritt an?

 

Derzeit liegt Erdoğan mit seiner „Volksallianz“ mit 44 Prozent hinter seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, der ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien anführt. Dieser „Sechsertisch“ kommt laut Umfrage auf rund 55 Prozent. Das Linksbündnis unter Führung der pro-kurdischen HDP liegt bei etwa 11-12 Prozent. Insgesamt werden bei der Wahl 36 Parteien antreten. Bis 10. April müssen sie ihre Kandidatenliste einreichen. Aber die Augen sind bereits jetzt auf einen einzigen Mann gerichtet: Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu.
Wer ist Kemal Kılıçdaroğlu?
Kılıçdaroğlu ist Chef der größten Oppositionspartei CHP und wird auch „Anti-Erdoğan“ genannt. 2009 wollte der 74-Jährige Bürgermeister von Istanbul werden, unterlag dann aber der AKP. Er gilt als Saubermann, der veruntreute Milliarden wieder dem Staatshaushalt zuführen möchte. 2017 organisierte er einen 400 Kilometer langen „Gerechtigkeitsmarsch“ von Ankara nach Istanbul, dem sich tausende Menschen anschlossen. Es war ein Aufbegehren gegen die Inhaftierung von Oppositionellen, darunter auch Abgeordnete von Kılıçdaroğlus eigener Partei. Im Wahlkampf verspricht der studierte Ökonom einen wirtschaftlichen Aufschwung. Er wirft Erdoğan vor, die Inflationsraten zu schönen und rief Menschen dazu auf, aus Protest ihre Stromrechnungen nicht zu bezahlen. Sein Hauptziel ist es, aus der Türkei wieder eine parlamentarische Demokratie zu machen, also das Präsidialsystem abzuschaffen.
Spielt das Erdbeben eine Rolle?
Ja. 15 Prozent der Wähler haben angegeben, aufgrund des Erdbebens ihre Entscheidung zu überdenken. Erdoğan wird sich deswegen geschickt als Krisenmanager inszenieren, der sich als amtierendes Staatsoberhaupt um den Wiederaufbau kümmern müsse. Erdoğan verspricht, dass Menschen, die ihr Haus oder ihre Wohnung verloren haben, bereits in einem Jahr wieder eine neue Bleibe haben werden. Aber viele seiner Wähler blicken nicht nur nach vorne, sondern auch zurück. Sie geben Erdoğans Regierung die Schuld daran, dass die Häuser überhaupt einstürzten.

 

 

 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.