Das Debütalbum von Conchita Wurst: Kardiogramm mit Bart

Debütalbum von Conchita Wurst: Kardiogramm mit Bart

Das Debütalbum von Conchita Wurst: Kardiogramm mit Bart

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Im Rückblick wirkt der Aufstieg von Conchita Wurst wie eine dieser schönen Geschichten, die eigentlich nicht wahr sein dürften: ein Sommermärchen, von dem man sich hierzulande noch in zehn Jahren, wahrscheinlich sogar in ein paar Jahrzehnten erzählen wird. Ganz Europa (zumindest der aufgeschlossene Teil davon) verfiel im Sommer 2014 einer bärtigen Sängerin aus Österreich, die das Teilnehmerfeld des Eurovision Song Contest (ESC) in Kopenhagen mit respektablem Abstand hinter sich gelassen und ihrer Heimat zugleich die Möglichkeit geboten hatte, sich über Nacht zum Aushängeschild in Sachen Toleranz und Weltoffenheit zu erklären.

Was danach kam, lässt sich nur noch in Schlagzeilen fassen: Konzert auf dem Wiener Ballhausplatz und Audienz bei Bundeskanzler Faymann; Auftritt im Europaparlament und vor den Vereinten Nationen mit Generalsekretär Ban Ki-moon. Jean Paul Gaultier, der den Wiener Life Ball vergangene Woche modetechnisch orchestrierte, erklärte die „Queen of Austria“ zu seiner neuen Muse. profil kürte die Kunstfigur Conchita, neben Russlands Präsidenten Wladimir Putin, zu den Menschen des Jahres 2014 – und dies durchaus aus politischen Gründen, auch wenn Conchita in Interviews gern betont, sie sei ja nur auf den Feldern Kunst und Unterhaltung tätig, nicht in der Herzchirurgie.

Die Musik spielte bei Conchita Wurst immer nur eine Nebenrolle

In diesem Wechselspiel aus Pop, Politik und Kardiologie (ja, es geht auch im Pop um gebrochene Herzen) liegt die Stärke der Weltbotschafterin Conchita, die in kürzester Zeit mehr für die sexuelle Diversität getan hat, als ihren Feinden recht sein kann. Zugleich aber ist es die große Schwäche ihres ersten Albums. „Conchita“, so der schlichte Titel des Tonträgerdebüts, kann der überlebensgroßen Kunstfigur nicht gerecht werden. Das liegt einerseits daran, dass die zwölf Songs mit dem durchaus sehr begabten Sänger Tom Neuwirth, wie der 26-jährige Ex-Castingshow-Kandidat hinter der Kunstfigur bekanntlich heißt, kaum etwas zu tun haben. Conchita Wurst fungiert hier nur als Medium für eine willkürliche und erratische Songsammlung, die von unzähligen Komponisten und Textern maßgeschneidert wurde. Andererseits hat sich die sozial wirksame Kunstfigur mit einer reinen Gesangskarriere ohnehin nie zufrieden gegeben. Die Musik spielte bei Conchita Wurst immer nur eine Nebenrolle – das war schon beim ESC-Siegerlied „Rise like a Phoenix“ so und wird sich auch mit „Conchita“ nicht ändern. Schon in ein paar Wochen, wenn Wien wieder Wien und nicht mehr internationale Partymetropole sein wird, dürfte das Album, zumindest in musikalischer Hinsicht, kaum noch jemanden interessieren.

Das Schöne an „Conchita“ ist, dass es dieses Album eigentlich gar nicht geben müsste. Die Figur der langhaarigen Dragqueen mit dem wohlgetrimmten Vollbart funktioniert auch losgelöst von den Auswüchsen der ESC-Vermarktungsindustrie. Mit ihren Auftritten – egal ob auf dem Life-Ball-Laufsteg oder vor den Vereinten Nationen – beweist sie stets aufs Neue, dass diese Art von Unterhaltungskunst (nennen wir sie Pop) politisch sein kann und muss. Mit dieser Gewissheit kann vermutlich auch Tom Neuwirth ganz gut leben – auch wenn aus ihm kein Herzchirurg mehr wird.

Das Album: Klangirrlichter

Die gute Nachricht zuerst: Produktionstechnisch muss sich „Conchita“ international nicht verstecken. Musikalisch irrlichtert das Debüt der Sängerin allerdings ziemlich verloren durch angestaubten Breitwandpop, arbeitet mit großer Geste (Power-Ballade!) und dramatischen Übertreibungen (man hört Disney-Soundtracks und Musical-Versatzstücke), mit knalligen bis peinlichen Soundeffekten. Spätestens bei „Colours of your Love“ fühlt man sich unwohl in die 1990er-Jahre zurückversetzt. So stimmig die Themen (Selbstbestimmung, freie Liebe, neue Helden), so unstimmig erscheint hier die musikalische Zusammensetzung.

Conchita Wurst: Conchita (Sony Music)

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.