Kultur

Anya Taylor-Joy: Von der Schachkönigin zur Horror-Posse

Seit sie in dem Serienhit "The Queen's Gambit" eine sozialgehemmte Schachmeisterin dargestellt hat, gilt Anya Taylor-Joy als Weltstar. Nun tritt sie in der blutigen Gastro-Horrorposse "The Menu" auf. Porträt einer mehrheitsfähigen Einzelgängerin.

Drucken

Schriftgröße

Ihre Arbeitswut sei schon ein bisschen "ungesund", das ist ihr selbst klar. 15 Kinofilme, vier große Serien (darunter elf "Peaky Blinders"-Episoden), dazu Synchron-und Fernseharbeiten, Kurzfilme und Musikvideos hat Anya Taylor-Joy in den vergangenen neun Jahren veröffentlicht. Gerade hat sie in der australischen Wüste eine neue "Mad Max"-Motoroper umgesetzt, aber eine Auszeit nehmen? Geht blöderweise nicht. Bis Mitte 2023 läuft es, dank längst vereinbarter Projekte, nun bruchlos weiter, ohne jede Atempause. Das Leben für das Kino mache sie leider glücklich. Warum zum Teufel sollte sie mit ihrer Lebenszeit etwas anderes anfangen?

Als im Jänner 2015 der historische Folk-Schocker "The Witch" beim Sundance Film Festival uraufgeführt wurde, kannte niemand die Schauspielerin Anya Taylor-Joy. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten, die im Dezember 2013 stattgefunden hatten, war sie 17 Jahre alt. Robert Eggers' Hipster-Horror wurde gefeiert, seine jugendliche Hauptdarstellerin gelobt: Es gab große Anerkennung in der Arthouse-Szene, aber keinen echten Karrieredurchbruch. Ab 2015 gehörte Taylor-Joy immerhin zu Hollywoods aufsteigenden Talenten, zu den Gesichtern, die man sich merken sollte. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis der Welterfolg nicht mehr zu leugnen war. Die Netflix-Miniserie "The Queen's Gambit", die im Covid-Herbst 2020 allein in den ersten vier Wochen in 62 Millionen Haushalten weltweit abgerufen wurde, machte die junge Protagonistin berühmt.

Anya Taylor-Joy, damals 17, in dem Schocker "The Witch"

Ihr großbürgerliches britisches Elternhaus ist unüberhörbar, in Taylor-Joys Akzent und ihrem selbstironischen Witz. Aber die gebürtige Amerikanerin verbrachte die ersten sechs Jahre ihres Lebens in Buenos Aires, ehe ihr schottisch-argentinischer Vater und ihre in Sambia geborene, spanisch-englische Mutter mit den sechs Kindern nach London zogen. Heute fühlt sie sich dort daheim, wo sie gerade ein Hotelzimmer bewohnt. Das nomadische Leben des Filmstars Anya Taylor-Joy, 1996 in Miami geboren, hat also nicht erst mit den Reisen von einem Drehort zum nächsten begonnen. Sie fühle sich oft, seit ihrem Kindesalter schon, displaced, stets am falschen Ort (oder an keinem richtig), und sie nimmt sich, obwohl sie gelernt hat, sich sozial zu geben, als Einzelgängerin wahr; so liebt sie es, Außenseiterinnen zu spielen. Zur Outsider - Art neigt sie in ihrer Stoffund Rollenwahl tatsächlich, verkörpert oft psychisch versehrte, in den Überlebenskampf gezwungene Charaktere. Es ist kein Wunder, dass sie das scheue Schachgenie Beth Harmon als jene Figur bezeichnet hat, die am meisten mit ihr selbst zu tun habe.

Dieser Tage ist Taylor-Joy in einer bizarren Haute-Cuisine-Comedy namens "The Menu" in den Kinos zu bewundern, in einem Film, der zart angebratenes Entertainment mit blutigem Klassenkampf verquickt (siehe dazu auch die Filmkritik rechts außen). Anya Taylor-Joy überantwortet sich ihren Rollen typischerweise mit Haut und Haar: Von einer Art "Zwang", die Geschichte einer Figur auszuleuchten, erzählt sie gern; ihre Beziehung zu den Menschen, die sie darstellt, sei "intensiv" und "unfassbar real". Sie beschreibt sich als chaotische, "all-over-the-place-person" - außer am Filmset; dort werde sie zum kontrollbesessenen Organisationstalent. Denn sie nimmt ihre Profession geradezu neurotisch ernst. Nach Dreharbeiten weine sie in Flugzeugen regelmäßig "hysterisch", das sei aber gut so, es lindere den Abschiedsschmerz. Ihr Herz sei übrigens zum ersten Mal nicht durch einen Menschen, sondern durch das Ende der Arbeit an einem Film, nach dem letzten Drehtag von "The Witch", gebrochen worden.

Girls next door spielt sie kaum, dem steht ihre eigenwillige Physis im Weg. Wenn die Make-up-und Kostümleute sich ins Zeug legen, kann sie so aussehen, als wäre sie von einem Computerprogramm animiert worden. Ihre billardkugelgroßen, weit auseinanderliegenden schwarzen Augen passen gut zu ihrem auch privaten Faible für modische Mutproben, was sie insgesamt wie eine 3D-Vision aus einem japanischen Manga erscheinen lässt. Dazu kommt aber ihr fast altmodisches Beharren auf traditionellen Kino-Glamour. Taylor-Joys sehr spezieller Look, diese Mischung aus extraterrestrischer Schönheit und fremder Anziehungskraft, scheint sie, wie einst auch die Italo-Gothic-Domina Barbara Steele, die Eighties-Angstkriegerin Adrienne Barbeau oder aktuell Tilda Swinton und Mia Goth, für Horrorstoffe zu prädestinieren: Anya Taylor Joy ist eine scream queen für die Millennials.

Eine Laufbahn als Model wurde ihr mit 14 schon in Aussicht gestellt, zwei Jahre später nahm eine Agentur sie unter Vertrag. Aber in die Kameras überdrehter Modefotografen zu starren, befriedigte sie nicht. Sie wollte zum Film. Und die Intensität ihres Spiels fiel sofort auf, wie die Künstlichkeit ihrer Erscheinung: Zwischen 2016 und 2019 gab sie eine Androidin (in "Morgan"),eine juvenile Gewalttäterin (in "Thoroughbreds"), eine Traumatisierte in M. Night Shyamalans Psychothrillern "Split" und "Glass". 2020 wurde für Taylor-Joy zum Schlüsseljahr: Für das Jane-Austen-Lustspiel "Emma" verwandelte sie sich in die Titelheldin "mit glamourösem Auftreten und leichtem Frostschimmer", wie das Branchenblatt "Variety" schrieb; sie rückte auch in die Marvel-Welt der "X-Men" aus, in dem Kinoflop "The New Mutants" (2020).Dann kam "The Queen's Gambit" und veränderte alles. Wenige Monate nach Serienstart wurde ihr ein Golden Globe zugesprochen. Als rachelüsterne Titelheldin wird sie in "Furiosa", dem kommenden "Mad Max"-Kinospektakel, zu sehen sein, inszeniert wieder von dem australischen Postapokalypse-Veteranen George Miller. Darin stellt sie die jüngere Version jener hartgesottenen Kriegerin dar, die 2015 in "Mad Max: Fury Road" von Charlize Theron gespielt wurde. 1,8 Millionen Euro an Gage soll Taylor-Joy dafür erhalten haben. Scott Frank, Regisseur des "Damengambit", plant, mit ihr demnächst Vladimir Nabokovs Roman "Laughter in the Dark" ("Gelächter im Dunkel") von 1932 fürs Kino aufzubereiten. Es geht voran, und Anya Taylor-Joy weiß, was sie zu tun hat.

Soziale Medien liegen ihr nahe. Auf Twitter meldete sie sich bereits als 16-Jährige an; 9,1 Millionen Follower hat sie derzeit auf Instagram, wo sie (wie auch auf Facebook) vor allem hochpolierte Selfies und Red-Carpet-Momente postet (oder von Handlangern posten lässt)-und sich als Modemagazin-Covergirl präsentiert. Als "Dragicorn Space Oddity" bezeichnet sie sich online selbst: als außerirdische Kuriosität, halb Drache und halb Einhorn.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.