Éva Fahidi, Emese Cuhorka

Bühne: Auschwitz-Überlebende Eva Fahidi tanzt ihre Lebensgeschichte

Die 92-jährige Auschwitz-Überlebende Eva Fahidi erzählt und tanzt ihre Lebensgeschichte - nun auch auf der Bühne des Volkstheaters.

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Kann man Auschwitz tanzen? Auf einem Videomitschnitt aus Budapest sieht man eine schlanke Gestalt mit weißem Haar, in weißen Leggins und weißem T-Shirt. In einem Lichtkegel schreitet sie quer über die Bühne, zentriert, aufrecht, geschmeidig, mit langem Hals, gleich einer Tangotänzerin. Das ist Eva Fahidi. Ein unbestimmtes Lächeln spielt auf ihren Lippen, das von weit herzukommen scheint. Als ob sie alles wüsste und alles schon gesehen hätte. Jetzt rückt auch die junge Tänzerin Emese Cuhorka ins Licht; die beiden Frauen helfen einander beim Dehnen und Strecken, umkreisen einander, erzählen sich Geschichten, Träume der Kindheit, scherzen, schauen sich an, horchen in sich hinein. Die Junge verwandelt sich immer mehr in Eva Fahidis kleine Schwester, die heiß geliebte Giliki, die elf Jahre alt war, als sie ins Gas geschickt wurde. Das Publikum lacht und stöhnt, seufzt und schluchzt, und am Ende ist es ganz still.

Die freie Theatergruppe "The Symptoms“ und die Regisseurin Reka Szabo haben dieses Stück in einem kleinen Off-Theater in Budapest zur Aufführung gebracht - ein couragiertes Unterfangen in der aufgeheizten antisemitischen Grundstimmung in Ungarn, in der Premier Viktor Orbán persönlich gegen den US-Milliardär George Soros hetzt und ihn nach altbekanntem Muster einer jüdischen Weltverschwörung bezichtigt. Am 9. November, dem Tag des Novemberpogroms, gibt die Truppe um Szabo ein Gastspiel am Wiener Volkstheater.

Da steht nun Eva Fahidi und probt in einem türkisen Kasak, schmalen Hosen und bequemen Schuhen. Auf der großen Bühne des Volkstheaters wirkt sie noch zerbrechlicher, noch präsenter, und ihr Haar leuchtet wie Schnee. Sie ist keine ausgebildete Tänzerin, aber sie hat ihr Leben lang getanzt. Man kann damit mehr sagen als mit Worten, erklärt sie später in der Künstlergarderobe.

Erste Erinnerungen

Das Tanzen zur Bacchanale von Camille Saint-Saëns, die aus einem alten Radio strömte, das ist ihre allererste Erinnerung - da war sie etwas über drei Jahre alt. "Ich habe mich im Schlafzimmer vor den Spiegel des Kleiderschranks gestellt, es war ein dreiteiliger, in dem man sich von allen Seiten sieht, hab mich ausgezogen und nach der Bacchanale getanzt - ganz für mich, splitternackt. Meine Mutter sah von der Tür aus zu, gewiss irritiert, aber sie hat nichts gesagt, ließ mich gewähren. Sie war sehr klug.“

Für eine Tänzerin sei sie zu groß gewachsen, meinte ihre Mutter später. Aber Eva Fahidi wollte ohnehin Pianistin werden. Sie war begabt. Doch im Jahr 1943 nahmen sie an der Musikakademie in Budapest keine Juden mehr auf. Und nach Auschwitz spielte ihre Wirbelsäule nicht mehr mit. So hielt sie sich mit Heilgymnastik beweglich und wurde dann doch noch Tänzerin. Mit 90.

1925 wurde Eva Fahidi in Debrecen in eine Welt hineingeboren, die noch den Geist der Monarchie atmete und nach bürgerlichen Tugenden und alten Gesetzen funktionierte. Ihr Vater entstammte einer armen, kinderreichen und frommen jüdischen Familie, deren Oberhaupt sich als tüchtiger Schneidermeister emporgearbeitet und seinen Kindern eine höhere Bildung hat angedeihen lassen. Ihre Mutter gehörte dem Pressburger Großbürgertum an. Man beherrschte die Sprachen der Monarchie, konversierte am liebsten in Deutsch und fuhr mit der Trambahn nach Wien ins Theater oder ins Konzerthaus. Die Heirat des armen, aber vielversprechenden Fahidi mit der schönen und verwöhnten Tochter aus dem Hause Weisz war gern gesehen. Der Mann hatte in dieser Konstellation die Aufgabe, seine Frau glücklich zu machen und ihr Vermögen zu vermehren. So geschah es auch. In wenigen Jahren besaßen die Fahidis einen lukrativen Holzhandel, landwirtschaftlich betriebene Güter, ein Haus in der Stadt, einen Sitz am Land und Gouvernanten der Waldorf-Pädagogik aus Wien. Der Vater war zum Katholizismus konvertiert, die Töchter wurden in eine Klosterschule geschickt. Man wähnte sich sicher. Das war ein Irrtum.

"Wir hätten es wissen müssen“, sagt Fahidi heute. Lange Jahre haderte sie mit ihrem Vater, weil er die Zeichen der Zeit nicht sehen wollte. "Er war nicht imstande, sein mühsam erworbenes Vermögen dazulassen und mit der Familie rechtzeitig zu flüchten, wie es andere taten. Die Wiener Tanten waren 1938 in die Tschechoslowakei geflohen. Von dort wurde unsere gesamte Verwandtschaft schon 1942 deportiert.

Acht Wochen in Auschwitz

Am 27. Juni 1944 wird die Familie mit 80 anderen Juden in einen Viehwaggon gepfercht. Sie glauben, es werde dort, wo sie hinkommen, Arbeit geben, sie würden hart schuften müssen, aber sie würden es durchstehen, die Familie würde zusammenbleiben, und bald seien die Deutschen ja auch besiegt, und der Krieg werde vorbei sein. Nach dreieinhalb Tagen ohne Wasser, mit einem Eimer für die Fäkalien, einer handbreiten Ritze für Luft und Menschen, die darüber verrückt werden oder sterben, hält der Zug. Im Morgengrauen sehen sie die Lageraufschrift "Ausschwitz-Birkenau“. Sie werden hinausgetrieben, Frauen und Männer separiert, in eine Marschordnung geprügelt. Evas Mutter hat an einer Hand die kleine Giliki, die andere trägt gemeinsam mit der Cousine einen Korb, in dem der sechs Monate alte Ferike liegt. Ein deutscher Herr, ein Arzt, ein gut aussehender Mann, wie sich Fahidi erinnert - heute weiß sie: es war Josef Mengele -, macht einen kurzen Wink, und Eva Fahidi findet sich auf einer Seite, alle ihre Angehörigen auf der anderen. Sie hat sie nie wieder gesehen. Sie gingen ins Gas. Aber das wusste sie damals noch nicht. Sie sah nur die Schornsteine, die Tag und Nacht qualmten, und sie hatte einen süßlichen Geruch und fettgeschwängerte Luft in der Nase. In den acht Wochen, in denen Eva Fahidi in Auschwitz war, kamen 437.402 ungarische Juden an der Rampe an. Der Großteil wurde sofort ermordet.

Als Eva Fahidi fünf Jahrzehnte später Auschwitz besuchte, blieb sie unberührt. Wo war die Lagerstraße? Wussten die Besucher, dass sie über Wiesen gingen, die mit Asche gedüngt war?

2011 hat Fahidi "Die Seele der Dinge“ in deutscher Übersetzung von Doris Fischer, im Lukas-Verlag veröffentlicht. Darin schreibt sie, dass sie sich im Lager an der Erinnerung an die menschliche Wärme ihrer Familie, an ihren Werten festhalten konnte. An Tugenden und an einer Erziehung, in der man Kindern ein Buch unter den Arm klemmte, um sie zu lehren, wie man bei Tisch sitzt und isst. Der 2016 verstorbene Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der zwei Wochen nach den Fahidis nach Auschwitz deportiert wurde, schreibt in "Roman eines Schicksallosen“: "Nirgends ist eine gewisse Ordnung in der Lebensführung, eine gewisse Mustergültigkeit, ja Tugend offensichtlich so wichtig wie in der Gefangenschaft.“

Fahidi und ihre Freundinnen haben so überlebt. Mit Disziplin. Eine war immer noch stark, wenn die anderen aufgeben wollten. Die Fünfergruppe, die beim Lagerappell immer eine Reihe bildete, die aus einem Napf essen und sich ein Brot gerecht teilen musste, verlor sich nie aus den Augen. Sie überlebten Auschwitz, die "Selektionen“, später die schwere körperliche Arbeit in einer Rüstungsfirma in der Nähe des Konzentrationslagers Buchenwald, sie überlebten Hunger, Erfrierungen und sadistische Willkür. Als Eva Fahidi im April 1945 befreit wurde, wog das großgewachsene Mädchen 40 Kilo.

Im November 1945 war sie wieder in ihrer Heimat. Ihre Angehörigen waren tot, das Vermögen war weg, ihr Haus besetzt. Fahidi las begeistert Karl Marx, schloss sich den Kommunisten an, war als einstige Angehörige der Bourgeoisie dennoch verfemt, galt in der KP-Diktion als "deklassiertes Element“, begann als Hilfsarbeiterin am Bau und arbeitete sich zur Fremdsprachenkorrespondentin in einem Außenhandelsunternehmen hoch.

"Je weiter die Vergangenheit wegrückt, desto mehr sehe ich Ähnlichkeiten zu heute. Man müsste eigentlich aus Europa weggehen“ sagt Fahidi noch. "Aber wohin? - Auf den Mond?“

Christa   Zöchling

Christa Zöchling