"Die Richterin": Lydia Mischkulnigs fulminanter neuer Roman

Abtauchen in die Parallelwelt von Asyl und Aufenthaltsrecht: Lydia Mischkulnigs furioser Roman "Die Richterin".

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Gabrielle ist Richterin am Wiener Verwaltungsgerichtshof und urteilt in zweiter Instanz über Asylfälle. Das ist, aus literaturtheoretischer Sicht, zwar ein eher karges Sujet für einen Roman, doch die Kärntner Autorin Lydia Mischkulnig findet dafür eine erfrischende Form. "Die Richterin" ist ein Buch, das sich den Widersprüchen und moralischen Dilemmata, dem flirrenden Wechsel von Gabrielles Lebensrealität und Arbeitsalltag widmet: "Ambivalenz war eine klare Sache." In einem bemerkenswerten Akt literarischer Alchemie bringt Mischkulnig, 57, Gegensätzliches miteinander in Verbindung. Gabrielle ist parkettsicher und wortgewandt, hat beste Manieren. Die Schriftstellerin wählt für ihre Heldin wirkungsvolle Bilder: "Als Richterin bekam sie nicht einmal ein Taxi bezahlt, war auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Dabei hätte Gabrielle ein Pferd beherrscht."Und weiter: "Hätte sie ein Pferd gehabt, wäre sie im Galopp am Flussufer entlang durch den Stadtverkehr und auch den Radfahrern voraus in den Morgen geritten." Kühler Kopf, heißes Herz.

Zugleich balanciert Gabrielle als Amtsträgerin ständig an der Grenze zur Überforderung. Ihr Ehemann Joe, ein frühpensionierter Lehrer, eine Kreuzung aus spätberufenem Lebemann und vergnügtem Buddha, liebt den Geruch von Kernseife und verrichtet in Gabrielles gelbem Chanel-Kostüm Hausarbeiten. So gut wie alle Figuren in "Die Richterin" sind mit ihren eigenen Schattenkämpfen beschäftigt: "Wie falsch es war anzunehmen, Juristen wären leidenschaftslose Menschen, bar jeden Gefühls. Das Gegenteil bewies Gabrielle in Amt und Würden."

Der Roman verhandelt die große Frage, wie die Erkenntnisse der Richterinnen und Richter in Asylfragen zustande kommen. Das Buch gibt viel von dem schwer Durchschaubaren preis, das Recht und Justiz, Flüchtlingsfragen und Asylalltag innewohnt. Soll Gabrielle dem Minderjährigen im Gerichtssaal glauben, der behauptet, sein Vater sei im Zentrum Kabuls einem Sprengstoffattentat zum Opfer gefallen? "Die Aussagen des Asylwerbers und die Fähigkeit der Vorstellungskraft des Richters, zu entscheiden, ob das Unsagbare geschehen war, vor dem der Mensch zu schützen war, überforderte jeden Computer."

Furioses Zeitbild

In dem Roman, der sich um jene Wirklichkeit kümmert, die für viele Menschen lebensverändernde Entscheidungen bereithält, kann man einiges ablesen über das Klima in diesem Land, in dem gerade Hunderten Asylwerbern nach der Lehre die Abschiebung droht; so sieht es das Gesetz vor. Lehrlingsproblematik, Taliban, Klimakatastrophe, Covid-19, #MeToo, FPÖ-Burschenschafter in Parlament und Ministerien, der rechte Terror in Deutschland, das tödliche Messerattentat in einem Vorarlberger Sozialamt: Mischkulnig entwirft ein furioses Zeitbild der laufenden Ereignisse.

"Die Richterin" verhandelt Grundsätzliches. Der Roman lässt Boulevardschlagzeilen wie "Asylrazzien im ganzen Land!", deren wahrer Zweck Spaltung und Aufhetzung sind, links liegen und taucht tief in das (Un-)Wesen des Asyllands Österreich ein, in dem es im Zweifelsfall nur ein Gesetz gibt: das des Stärkeren. Mit vorschnellen Urteilen hält sich Mischkulnig zurück; sie ist eine zu genaue Beobachterin, um sich von kursierenden Postulaten und Parolen blenden zu lassen. Ihr Schreiben ist die komplexe Summe aus vielen kleinen Momenten des Überprüfens und Reflektierens. Ihre Sätze hallen lange nach in diesem Buch, das Asyl in Österreich als langen Hindernisparcours beschreibt: "Die freiwilligen Rückkehrer wurden in Sammelflügen von Wien nach Kabul gebracht. Sie konnten bei klarem Wetter die Strecke, für die sie auf dem Boden Monate und Jahre gebraucht hatten, in zwei Stunden überfliegen. Der Flug über die Schauplätze der Untergänge, wo sie als Fischfutter, Wirtstiere oder Beute Krimineller, eines Grenzschutzbeamten oder Polizisten gelandet waren."

Gegen Ende des Romans stellt Mischkulnig die Frage in den Raum: "Wer sagt, dass Experten keine Haltung haben?"Gabrielles Antwort: "Die wahre Perversion ist die politische Haltung der christlich-sozialen Partei gegenüber Menschen in Not."

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.