US-Musikerin Kristin Hayter alias Lingua Ignota

Donaufestival 2023: Konserviert die Natur!

Fünf Empfehlungen aus dem Programm des Donaufestivals 2023.

Drucken

Schriftgröße

Lingua Ignota: Von der Utopie zur Dystopie

Wer das Glück hat, Lingua Ignota live zu erleben, bekommt ein Gefühl dafür, wie sich eine Zwischenwelt aus Ruhe und Sturm, Meditation und Ekstase anfühlen kann. Auf ihrer spärlich beleuchteten Bühne (sie nutzt nur einige wenige Stablampen, die sie im Dunkeln manövriert) erzählt uns Kristin Hayter, wie die US-Musikerin eigentlich heißt, von ihren Traumata und Lebensschicksalen, von unterdrückten Frauen, sexualisierter Gewalt und Misogynie. Hayter hat ihren Bühnennamen nicht zufällig gewählt: Über das Unaussprechliche lässt sich am besten in einer unbekannten Sprache reden. Denn Lingua Ignota (der Name ist einer Fantasiesprache der Universalgelehrten Hildegard von Bingen entlehnt) singt und schreit sich in eine Utopie hinein, die am Ende doch – und das ist der Teufelskreis ihrer Kunst – wieder in der Dystopie landet. Denn nichts ist schlimmer, dafür umso ehrlicher, als sich einzugestehen, dass man selbst nicht nur Opfer, sondern auch Täterin ist.  

Aber wie klingt dieser Feldversuch aus Pop, Protest und Performance? Auf ihrem jüngsten Album („Sinner Get Ready“, 2021), aufgenommen im ländlichen Pennsylvania, bewegte sich die Künstlerin, die eine klassische Stimmausbildung hat, weg von den verzerrten Noise-Experimenten ihrer früheren Alben, verliert sich lieber in einer Mischung aus ruhigen Doom-Balladen, Neo-Klassik und feministischem Avantgarde-Pop.

Das kathartische Projekt Lingua Ignota dürfte dennoch bald ein angekündigtes Ende finden – und das Donaufestival eine der letzten Möglichkeiten bieten, Hayter in dieser Inkarnation live zu erleben (6. Mai, 22.00 Uhr, Stadtsaal). Denn Hayter gab unlängst auf ihrem Instagram-Account bekannt, dass sie ihr Musikunternehmen nach den wenigen Verpflichtungen, die sie heuer noch zu absolvieren habe, nicht mehr weiterführen wolle. Sie könne nicht zulassen, heißt es in ihrem leise besorgniserregenden Statement, dass ihre Wunden sie zerstörten („I want to live a healthy, happy life“), so wolle sie sich lieber neuen musikalischen und künstlerischen Projekten widmen: „Es ist nicht gesund für mich, meine schlimmsten Erfahrungen immer wieder zu durchleben.“ Am Ende bleibt nur die Flucht nach vorn.

 

Big Brave: Konserviert die Natur!

Leere Klimaziele, Greenwashing und „Auto-Gipfel“ – alles ein „Highway to Climate Hell“, wie es UN-Generalsekretär António Guterres letztes Jahr schmerzlich auf den (popkulturellen) Punkt gebracht hat. Wenn es also die Welt, in der wir leben, bald nicht mehr geben wird, existiert immerhin noch der fromme Wunsch, sich kurzfristig von allem Körperlichen zu befreien. Nichts eignet sich dafür besser als die krachende Musik des aus Montreal stammenden Trios Big Brave (zu sehen am 28. April um 20.30 Uhr im Stadtsaal), das kürzlich sein Noise-Album „Nature Morte” veröffentlicht hat. Mittelpunkt des kreativen Triumvirats: Sängerin und Bassistin Robin Wattie, die zeigt, wie aus Dekonstruktion Neues entstehen kann. 

Die Big-Brave-These, die uns da um die Ohren geschlagen wird: Vielleicht müsse man die Natur, so viel noch von ihr übrig ist, in eine nature morte, ein Stillleben gießen, um es für künftige Generationen zu konservieren. Auch wenn es dann, zwischen Gitarre, Bass und Schlagzeug, wie von einem Bulldozer wegradiert wird. „My Hope Renders Me a Fool“ nennt sich eine aktuelle Instrumental-Nummer von Big Brave und zeigt in vier Minuten und 47 Sekunden, wie nah man in der Popmusik einer Welt ohne Schmerz und Angst kommen kann. Merke: Auch wenn die Hoffnung uns nur Lügen straft, ist sie dennoch alles, was uns bleibt.

Koenig: Die Wahrheit wird freigelegt!

Versucht man, diese kaputte, überfordernde und doch auch seltsam schöne Welt zu verstehen, lädt man sie am besten in sein kleines Dorf ein – und spricht darüber, was einem unter den Fingernägeln brennt. Der Wiener Rapper, Pop-Neudenker und Schlagzeuger Lukas König hat dieses Vorhaben nun auf sein Album „1 Above Minus Underground“ (erscheint diesen Freitag bei Ventil Records/PTP) gepackt, das er mit dem Elektro-Musiker Nik Hummer (Metalycée) ausgeheckt hat. Das Konzept: Königs Schlagzeug wird durch einen modularen Synthesizer gejagt, während die Sessions zu einzelnen Tracks zwischen HipHop-Beats und Noise geformt und von Rapperinnen und Sängern wie Moor Mother, Guilty Simpson, Dälek und Elvin Brandhi veredelt werden, wie König im Gespräch mit profil erklärt. In den Texten geht es um Virulentes: Rassismus und Polizeigewalt, das Patriarchat, den Krieg in Europa und das militärische Wettrüsten (zu hören im Song „Due Diligence“).

Nicht politisch zu sein, vor allem, wenn man mit Sprache arbeite, sei aktuell ohnehin keine Option, meint König, denn man müsse die Themen auch ansprechen, „damit was passiert“. Deutlich wird das in dem Track  „War is the Unveiling of Truth“, in dem die iranische Künstlerin Rojin Sharafi unverblümt über die Lage ihres Landes, die Brutalität der Revolutionsgarden und die anhaltenden Proteste rappt. Bei aller Düsternis, die diese Platte ausmacht, so König noch, gebe es immer wieder Momente der Hoffnung. Denn als Dystopie will er sein Werk nicht verstanden wissen: „Wir machen ja alle weiter“, meint er lakonisch; es sei das Ziel, Menschen zu motivieren, Veränderungen anzustoßen. Das Paradoxe sei, dass ein Album wie dieses in einem Mikrokosmos entstehe und mit der restlichen Welt kaum Berührungspunkte habe, die Songs dennoch die Gegenwart durchaus konkret widerspiegeln. Koenig (wie der Musiker sein Soloprojekt kurz nennt) wird dieses Unterfangen, begleitet von vielen Gastkünstlerinnen, am 29. April (20.30 Uhr, Stadtsaal) zur Premiere bringen. 

Debby Friday/James Holden: Tanz die Utopie!

Zwei Möglichkeiten, sich in Krems in den Frühling zu tanzen: Die aus Nigeria stammende, in Kanada lebende Künstlerin Debby Friday verwebt auf ihrem Debüt „Good Luck“ den kühlen Klang harter Industrial-Sounds (à la Nine Inch Nails) mit R&B und gut unterkühlter Clubmusik. So ambivalent Debby Friday  ihre poppige Musik anlegt (sie tritt am 5. Mai um 23.30 Uhr in der Halle 2 auf), so vielfältig sind ihre Texte. Friday erzählt von einer schwarzen, queeren Migrantin in Toronto, von ihrem Kampf gegen das Patriarchat, feiert das Empowerment einer Generation und nimmt sich, was ihr das Leben nicht versprochen hat (zu hören im Song „Heartbreakerrr“). Eine Entdeckung. 

Stell dir vor, es gibt einen Raum, in dem alles möglich ist. Der britische Produzent und Techno-DJ James Holden (30. April 2023, 20.00 Uhr, Stadtsaal) versucht sich nach Ausflügen in Ambient- und Freejazz-Welten wieder an der Clubmusik und kehrt mit seinem aktuellen Werk (mit dem wunderbar utopischen Titel „Imagine This is a High Dimensional Space of all Possibilities“) ein Stück zu seinen Wurzeln zurück, ohne das Hier und Jetzt auszublenden. Denn Holden weiß zu gut, dass die Zeit der Jahrtausendwende, die Sturm-und-Drang-Phase seiner Karriere, nur noch als nostalgische Erinnerung durch seine Sounds wabert, so schmückt er seine Lieder heute lieber mit eingestreuten field recordings und unorthodoxen Klängen. Die Tanzfläche wird hier zum Blumenfeld.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.