Emotionen: Eine Historikerin erkundet die menschliche Seele

Wut, Trauer, Hass, Freude und Liebe - und das war’s dann schon? Mitnichten! Die britische Historikerin Tiffany Watt Smith benennt in ihrem "Buch der Gefühle“ bislang unbekannte Regungen der menschlichen Seele.

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Einer der flachsten Witze zu zwischengeschlechtlichen Befindlichkeiten lautet: Sie: "Ich möchte, dass du endlich lernst, über deine Gefühle zu reden.“ Er (vor dem TV-Gerät sitzend): "Überhaupt kein Problem. Ich habe das ehrliche, total authentische Gefühl, dass ich noch ein Bier brauche.“

Es ist jedoch tatsächlich so, dass sich Emotionen der Seele bemächtigen können, die Menschen, auch solche mit psychologischer Bildung und dem Talent zur Selbstreflexion, nicht artikulieren können.

Awumbuk wäre ein solches Beispiel für ein Gefühl, das jeder kennt, für das dem Gros der Menschheit jedoch die Worte fehlen - jetzt einmal abgesehen vom indigenen Volk der Baining, die in den Bergen von Papua-Neuguinea residieren und aus deren Wortschatz der Begriff stammt. Awumbuk bezeichnet jenes Gefühl der Leere und Apathie, das sich der Gastgeber bemächtigt, wenn sich ihre Besucher wieder verabschiedet haben. Die Baining sind der Überzeugung, dass die Gäste vor ihrem Abgang eine Art Schwere abstoßen, um sich selbst leicht für die bevorstehende Reise zu machen. Damit die Gastgeber von dieser dunklen Energie nicht selbst niedergedrückt werden, stellen sie eine Schüssel mit Wasser auf, damit all die negative Apathie absorbiert werden kann. Am nächsten Tag wird die Flüssigkeit weggegossen, und das Leben kann wieder seinen munteren Verlauf nehmen.

Diese Erklärung klingt ein wenig nach Esoterik im Stil tibetischer Klangschalen-Folklore, denn das Gefühl der Leere ist vielleicht auch mit einer ganz banalen Erschöpfung nach Vorbereitungsstress und Gästeunterhaltung gleichzusetzen, aber über weite Strecken bietet "Das Buch der Gefühle“ durchaus erhellende Momente auf dem dunklen Kontinent der Emotionen.

Buch als Zufallsprodukt

Eigentlich war dieser Atlas der Empfindungen der britischen Historikerin Tiffany Watt Smith, die optisch genau dem Klischee der etwas schrulligen, themenobsessiven Forscherin entspricht, ein Zufallsprodukt. Für ihre Dissertation an der Londoner Queen-Mary-Universität wollte sich die Wissenschafterin den diversen Theorien der Emotionsforscher widmen, ausgehend von den sechs Grundaffekten, die der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes im 17. Jahrhundert festgelegt hatte: Liebe, Hass, Freude, Begehren, Traurigkeit und Bewunderung. Doch je länger sich Smith in ihr Forschungsbiet vertiefte, desto überzeugter war sie, dass diese emotionale Grundausstattung, die um ein paar Facetten erweitert bis heute gilt, den möglichen Gemütsnuancen der Menschheit nicht gerecht werden kann.

Ausgedehnte Recherchen auf den Gebieten der Ethnologie, Medizingeschichte, im Vokabular unterschiedlicher Sprachen, in der Literatur und in Autobiografien von Forschern quer durch die Jahrhunderte brachten sie zu der Erkenntnis, dass tatsächlich Hunderte Emotionen existieren, die man zwar umschreiben, aber nicht exakt definieren kann. Um diesen Facetten des Gefühlslebens gerecht zu werden, verfasste sie im vergangenen Jahr die Enzyklopädie "The Book of Emotions“, das demnächst in seiner deutschen Übersetzung erscheint. 154 Einträge finden sich darin, wobei Smith angibt, bei Weitem nicht alle Gefühlsregungen, auf die sie gestoßen ist, in ihrem Werk berücksichtigt zu haben. Von Amae (das japanische Wort für jenes Gefühl, das einen erfasst, wenn man sich voll Urvertrauen in die Arme eines geliebten Menschen begibt und sich dabei frei von jeder Verantwortung fühlt) über Basorexie (dem plötzlichen Drang, jemanden zu küssen) und Brandis (jener Lust, das Geduldpotenzial seines Gegenübers auszureizen, bis ihm der Kragen platzt) bis zu Zal (dem polnischen Ausdruck für eine Form radikaler Verzweiflung) reichen die Einträge. Zal bemächtigt sich eines Menschen, der im Begriff ist, alles zu verlieren und nicht die geringste Chance auf eine positive Wende seines Schicksals besitzt. Der Komponist Frédéric Chopin benutzte das Wort, als sein Leben eine jähe Wendung ins Negative nahm und ihn eine Welle von "morbider Intensität“ überkam: Emigration aus Polen, eine mehr als stürmische Beziehung zu George Sand, triste Vermögensverhältnisse, soziale Isolation durch seine angegriffene Gesundheit und beginnende Halluzinationen, die sich mit dem Fortschreiten seiner Schwindsucht verstärkten.

Durchbruch in Emotionsforschung

In den 1970er-Jahren, schreibt Smith, bewirkte übrigens die Entdeckung des japanischen Amae einen Durchbruch in der Emotionsforschung: "Das war für westliche Anthropologen der Beweis dafür, dass selbst unsere intimsten Gefühle von der politischen und wirtschaftlichen Organisationsform, in der wir leben, geformt werden.“ Smith ist überzeugt, dass Amae nur in Japan zum fixen Inventar der Volksidentität werden konnte, weil "diese Kombination von Verletzlichkeit und Zugehörigkeit nur in einem Land erblühen kann, in dem die Abhängigkeit von der Gruppe über jedem Individualismus steht“. Smiths Wanderung durch die Forschungshistorie der Emotionen, die übrigens im Temporallappen unseres Hirns in der Amygdala, einem tropfenförmigen Gebilde entstehen, ist spannend, weil sie auch eng mit dem Wandel unserer Sittengeschichte und Alltagskultur verwoben ist. Bis ins 19. Jahrhundert war von Gefühlen, wie wir sie heute kennen, nicht die Rede: Regungen wie Leidenschaften wurden als "Unfälle der Seele“ konnotiert. Den Begriff "emotion“ benutzte erstmals der englische Philosoph Thomas Brown, wobei das Wort diffus zum Einsatz kam: Sowohl Bäume, die sich heftig im Wind bewegten, als auch junge Frauen, die aus Schüchternheit und Scham erröteten, waren nach Brown mit "emotions“ besetzt.

Jener Mann, der mit seiner Theorie von der Abstammung vom Affen für eine der größten narzisstischen Kränkungen der Menschheit verantwortlich war, bewirkte auch Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen Durchbruch in der Verhaltensforschung: Charles Darwin schickte rund um den Globus Fragebögen an Missionare und Forschungsreisende, um herauszufinden, wie unberührt lebende Völker und Naturstämme Freude, Trauer, Wut etc. Ausdruck verleihen - mit dem kühnen Fazit, niedergeschrieben in seinem Werk "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“, dass Gefühle das Ergebnis von evolutionären Prozessen sind, die im Laufe von Millionen von Jahren entstanden sind. Einige Jahrzehnte später verzweifelte Sigmund Freund an einer Theorie der Gefühle, "die wissenschaftlich zu behandeln, nicht einfach ist“, wie er schrieb. Er legte dennoch den Grundstein für die Vorstellung, dass sich die Schrecken und Sehnsüchte unserer Kindheit "in den tiefsten Winkeln unseres Geistes“ (Smith) verbergen können und "wie Springteufel“ zum Beispiel in Form von Freud’schen Fehlleistungen zutage treten können.

Smith verhält sich bei der Erstellung ihres Befindlichkeitsatlas’ jedoch nicht nur rückwärtsgewandt: Auch dem digitalen Zeitalter entsprungene Gefühle, Neurosen oder Krankheitsbilder finden Erwähnung durch "Cyberchondria“, als Begriff für jene Form von Nervosität, die sich einstellt, nachdem man im Internet ausführlich Krankheiten und ihre Symptome gegoogelt hat, oder durch "Ringxiety“, was die trügerische Überzeugung bezeichnet, das eigene Handy habe geklingelt. Für den Psychologen David Lamarie, Erfinder des Worts, beschreibt "Ringxiety“ auch den Zustand einer Gesellschaft, die durch dauernde Erreichbarkeit das Abschalten verlernt hat und in ständiger Alarmbereitschaft lebt.

Tiffany Watt Smith: "Das Buch der Gefühle“ 22,90 Euro, 300 Seiten, dtv. Erscheinungsdatum: 7. April 2017

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort