„Jahrhundertfotograf“ Erich Lessing ist im Alter von 95 Jahren gestorben.

Erich Lessing: "Nur ein überzeugter Atheist kann die Religion verstehen“

Der „Jahrhundertfotograf“ Erich Lessing ist im Alter von 95 Jahren gestorben. Lesen Sie aus diesem Anlass das ausführliche profil-Interview, das Nina Schedlmayr im Jahr 2013 mit Lessing führte.

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Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe Nr. 30/2013 vom 22.07.2013.

Das Bild ist eine fotografische Ikone der österreichischen Nachkriegszeit: jener Moment im Mai 1955, als der damalige Außenminister Leopold Figl den unterzeichneten Staatsvertrag auf dem Balkon des Wiener Belvedere präsentierte. Die Aufnahme stammt vom Fotografen Erich Lessing, der am 13. Juli seinen 90. Geburtstag feierte. Der Sohn jüdischer Eltern floh 1939 nach Palästina und kehrte bereits 1947 nach Wien zurück; 1951 wurde er Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum. Neben innenpolitischen Schlüsselereignissen der Zweiten Republik dokumentierte Lessing europäisches Zeitgeschehen (etwa den Ungarn-Aufstand 1956), Alltagssituationen (bekannt wurde ein stürmisch einander küssendes Paar beim Heurigen); er fing in packenden Reportagen die Härte der Arbeit im Ruhrpott ebenso ein wie polnische Miss-Wahlen, fotografierte auf dem Set des John-Huston-Films "Moby Dick“ ebenso wie bei den Dreharbeiten zum heimischen Kitsch-Exportschlager "Sound of Music“. Blättert man Erich Lessings zahlreiche Publikationen durch, so fällt eines auf: Er beherrscht die Komik ebenso perfekt wie die Empathie - sein Repertoire ist denkbar breit angelegt. Kürzlich schenkte Lessing der Österreichischen Nationalbibliothek ein Konvolut von 60.000 Werken: 20.000 Negative und 40.000 Farbdias. Demnächst wird ihm das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen; und kommenden Samstag eröffnet das Grazer Atelier Jungwirth eine Ausstellung seiner Werke.

Zum profil-Gespräch in seiner Galerie in der Wiener Innenstadt fährt Lessing mit dem Auto vor. Würde er behaupten, er hätte soeben seinen Siebziger gefeiert, würde man es ihm glatt abnehmen. Nur in seltenen Momenten sieht man ihm sein Alter an: nämlich dann, wenn er sein Hörgerät entfernt, weil es den Geist aufgibt und zu zirpen beginnt.

INTERVIEW: NINA SCHEDLMAYR

profil: Herr Lessing, Ihre bekanntesten Arbeiten sind bereits älteren Datums. Was haben Sie zuletzt fotografiert? Erich Lessing: Da muss ich jetzt nachdenken. Voriges Jahr entstand anlässlich des 150. Geburtstags von Gustav Klimt eine Fotoserie am Attersee, und heuer im Frühjahr nahm ich ein paar Bilder in der israelischen Wüste auf, für ein Buch über Johannes den Täufer.

profil: Seither haben Sie also nicht mehr auf den Auslöser gedrückt? Lessing: Nein. Ich gehe schließlich nicht mit der Kamera spazieren. Es gibt dermaßen viele Bilder, irgendwann muss Schluss sein. Ich habe gerade aus Paris 4000 meiner Fotos bekommen, die bei Agenturen gelagert waren, Vintage-Prints aus den 1950er-Jahren. Die Zeit zwischen 1950 und 1960 war eine ungemein dichte Epoche, was Politik und Gesellschaft betraf.

profil: Finden Sie denn, dass heutzutage weniger los ist? Lessing: Nein. Aber viele Dinge bewegen sich auf anderen Ebenen. Damals dachten wir, wir müssten uns an die Zweiteilung der Welt in Ost und West gewöhnen. 1990 lernten wir dann, dass dem nicht so ist. Europa wächst enger zusammen, wir müssen weniger Angst vor einem dritten europäischen Krieg haben. Allerdings zerfleischt sich die arabische Welt gerade, ohne dass wir eingreifen können. Das wird voraussichtlich noch 100 Jahre dauern - so wie die aktuellen Demonstrationen in der Türkei wahrscheinlich wenig an der Lage dort ändern werden.

profil: Sie beobachten das politische Weltgeschehen? Lessing: Jeden Tag. Ich lese fünf Zeitungen beim Frühstück.

profil: Interessiert Sie da die heimische Innenpolitik? Lessing: Schon. Die Lage ist sehr stabil, auch wenn Frank Stronach ein wenig Unruhe hineinbringen wird. Aber das Land selbst weiß, wo es lebt - nämlich im Wolkenkuckucksheim. Wenn man von außen kommt, denkt man, zwischen Österreich und der Außenwelt verlaufe eine Grenze. Wir tun so, als wären wir überall beteiligt. In Wirklichkeit ist hier jedoch Wulkaprodersdorf - womit ich nichts gegen die burgenländische Gemeinde sagen will!

profil: Die Großparteien verlieren beständig an Wählerstimmen. Erleben Sie die Situation wirklich als so bewegungslos? Lessing: Die Großparteien nutzen sich eben ab - wie jeder einzelne Mensch übrigens. Dennoch: Politisch herrscht in Österreich nach wie vor Ruhe, kulturell geht es freilich eher hinterwäldlerisch zu: Spielt Cornelius Obonya den Jedermann, fühlt sich Salzburg gleich als Teil der Weltrevolution, und wenn Alexander Pereira an die Mailänder Scala geht, ist das für uns sehr, sehr wichtig. Ob das aber über Bad Reichenhall hinaus Wellen schlägt? Ich bezweifle es.

Es wird immer schwieriger, aus der stetig wachsenden Masse eine Auswahl zu treffen.

profil: Sie starteten in den späten 1940er-Jahren Ihre Karriere. Wie hat sich das Medium der Reportagefotografie seither verändert? Lessing: Es hat sich nicht verändert, es existiert schlichtweg nicht mehr. Dass man, wie wir damals, für eine Reportage bis zu 16 Seiten bekommt: Das ist ein Traum aus der Vergangenheit.

profil: Sie werden aber nicht bestreiten, dass es nach wie vor grandiose Fotografen gibt. Lessing: Keineswegs. Die Frage ist, was mit deren Bildern passiert. Es wird nicht nur viel weggeworfen. Wenn wir in 50 Jahren sehen wollen, wie die Mode und das Mobiliar zu Beginn des 21. Jahrhunderts aussahen, wird nur wenig vorhanden sein - und zwar gerade, weil wir so viele Bilder haben. Es wird immer schwieriger, aus der stetig wachsenden Masse eine Auswahl zu treffen. Zudem steht der Nachwuchs vor der Schwierigkeit, dass es kaum Festanstellungen bei Zeitungen oder in Museen gibt. Manchmal zeigen mir junge Fotografen ihre Bilder. Dann frage ich sie: "Wie publizieren Sie?“ Meistens lautet die Antwort: "Na, schlecht.“ Ich kenne großartige Bildbände - mit Auflagen von lediglich 1000 Stück. Wir haben von unseren Büchern damals viel mehr gedruckt, 30.000 oder noch viel mehr.

profil: Wie schätzen Sie in Hinblick auf diese Entwicklung die digitale Revolution ein? Lessing: Keinesfalls negativ. Das Digitale ist unser zukünftiges Leben. Dagegen kann man nichts machen - im Gegenteil: Man muss diese ungeheure Kraft bändigen. Sie bietet Möglichkeiten, die wir uns vor 30, 40 Jahren nicht einmal vorstellen konnten - etwa, dass man in der Nacht fotografieren kann. 1949 war der amerikanische Außenminister in Wien. Ich sollte ihn fotografieren, und meine Blitzlichtlampen funktionierten nicht. Ich bat ihn x-mal, ihn noch einmal und noch einmal fotografieren zu dürfen - bis mir der amerikanische Militärfotograf seine Kamera lieh! Unser damaliges Equipment kann man heute ins Museum stellen. Die Fotografie der Gegenwart: eine völlig andere Welt!

profil: Wie wirkten sich die digitalen Technologien auf die Fotografie formal aus? Lessing: Sie ist sicher besser geworden. Die Technik trug auch dazu bei, dass die Fotografie die kompositorische Starre verloren hat. Wir haben ein neues Bewusstsein für das Bewegte, für das Unscharfe. Die Fotografie der Gegenwart geht mehr ins Malerische. Es wäre interessant, was Walter Benjamin dazu zu sagen hätte, der große Theoretiker des Mediums.

profil: Benjamin sagte beispielsweise voraus, dass die Fotografie der Kunst ihre Aura rauben würde. Allerdings stellte sich später heraus, dass sie gegenteilige Wirkung hatte. Lessing: Auch die Fotografie selbst erhält heute eine solche Aura, die Vintage-Prints nämlich. Diese wurden aber früher so schnell wie möglich hergestellt, damit sie rasch in die Zeitschriftenredaktionen gelangten. Heute verklärt man das: Die heiligen Hände des Fotografen schweben in der Dunkelkammer über der Entwicklerflüssigkeit, bis das Bild erscheint, so stellt man sich das vor. So ein Schmarrn! Die wenigsten von uns hatten die Zeit, Bilder selbst zu entwickeln, etliche beherrschten das handwerklich gar nicht.

Heute hält jeder die Mona Lisa für ein großartiges Bild. Ich gönne mir die Freiheit, deren Qualität zu bezweifeln.

profil: Sie fotografierten einst sämtliche Werke in der permanenten Ausstellung des Pariser Louvre. Was faszinierte Sie an dieser Arbeit? Lessing: Ich bin froh darüber, dass ich nicht in der Reportage stecken geblieben bin. Die Fotos für das Louvre-Buch entstanden zwischen 1960 und 2010. Dabei lernte ich viel von den Repro-Fotografen, etwa wie man ein Licht positioniert, ohne dadurch dem Bild zu schaden. Vor allem aber entwickelt ein Museum seinen eigenen Charme an den Schließtagen, an denen ich oft fotografieren konnte. Man hat Zeit, die Bilder in Ruhe anzusehen. Die Mona Lisa musste ich dabei allerdings nicht unbedingt betrachten. Sie ist ein nicht wirklich gutes Porträt.

profil: Finden Sie? Lessing: Die Betrachtung der Kunst ändert sich über die Jahrhunderte hinweg. Heute hält jeder die Mona Lisa für ein großartiges Bild. Ich gönne mir die Freiheit, deren Qualität zu bezweifeln. Leonardo da Vincis "Dame mit dem Hermelin“ in Krakau finde ich viel geglückter.

profil: Wie hat sich die Beschäftigung mit der Malerei auf Ihr fotografisches Werk ausgewirkt? Lessing: Sehr stark. Mit jedem Gemälde lernt man, wie der Künstler ein Bild organisiert. Einmal bekam ich den Auftrag, Architektur zu fotografieren. Da hatte ich die Interieurbilder des Niederländers Pieter de Hooch vor Augen.

profil: Sie gestalteten Bücher über die Bibel, obwohl Sie keineswegs religiös sind. Warum? Lessing: Einer der großen Neukantianer schrieb, nur ein überzeugter Katholik könne den Atheismus verstehen. Ich drehe diesen Aphorismus um: Nur ein überzeugter Atheist kann die Religion verstehen. Sie hat jedenfalls großen Einfluss: Ich habe in meinem Archiv 50.000 Farbreproduktionen von Gemälden und Skulpturen, mindestens 7000 oder 8000 davon stammen aus dem religiösen Bereich. Die Geschichte der Religionen interessiert mich. Dennoch bin ich areligiös und glaube an die Finalität des Lebens.

Ich gehörte von Anfang an zu jenen, die das neue Österreich gebaut haben, mit all seinen Fehlern und negativen Seiten.

profil: Ihre Familie wurde in Auschwitz ermordet, sie selbst entkamen 1939 nach Palästina. Was gab Ihnen die Kraft, in ein Land zurückzukehren, das Mitschuld am Holocaust trägt? Lessing: Als ich 1946 wieder nach Wien kam, war ich im Grunde auf der Durchreise nach Frankreich. Dafür erhielt ich aber kein Visum, also blieb ich. Bald schloss ich mich hier einem Kreis an, der das andere Österreich repräsentierte, Fritz Wotruba und seinen Freunden. Das war eine Welt, die ich als die meine - oder die meiner Eltern - erkannte, in der ich mich sehr wohl fühlte. Sie bestand aus Leuten, die alle in KZs gewesen waren oder im Widerstand - im inneren wie im offenen.

profil: Die Nazis waren damals dennoch omnipräsent. Lessing: Die Frage ist: Wie stellt man sich einem Problem? Mir tun alle leid, die ihr ganzes Leben das Schicksal mit sich herumtragen und sich nie an etwas freuen können. Ich gehörte von Anfang an zu jenen, die das neue Österreich gebaut haben, mit all seinen Fehlern und negativen Seiten. Ich war ja schon zuvor Teil eines anderen Österreichs: Als ich ein Kind war, hatte der Vorsitzende der revolutionären Sozialisten, Karl Hans Seiler, seine Gewehre hinter meinem Bett versteckt. Ich war bei den Roten Falken und arbeitete bei der Roten Hilfe mit, 1936 war ich in einem sozialistischen Sommerlager in Italien. Das war alles illegal - und sehr g’spaßig. Meine Kinder sind in Hinblick auf die NS-Zeit übrigens viel empfindlicher als ich. Wenn jemand etwas Falsches sagt, dann stehen sie gleich auf und gehen weg. Ich kann bei Ausrutschern in Gesprächen nur lachen. Denn ich bin ja da! Ich habe es überlebt. Einer wie Heinz-Christian Strache ist da nicht mehr als eine Zeiterscheinung.

profil: Das vermutete man allerdings schon bei seinem Vorgänger Jörg Haider. Lessing: Haider war wenigstens gescheit.

profil: Unlängst schenkten Sie der Nationalbibliothek 60.000 Negative und Farbdias. Welchen Marktwert besitzt solch ein einmaliges Konvolut? Lessing: Das interessiert mich nicht. Der Marktwert meiner Arbeiten wird aber sicher fallen. Das Material - Politik und Alltag in Europa zwischen 1948 und 1980 - wird in einigen Jahrzehnten niemanden mehr interessieren. Die Farbreproduktionen der Gemälde werden eines Tages ebenfalls nur mehr historischen Wert haben: Künftige Drucktechniken werden viel besser sein als gegenwärtige. Bereits heute kann man an Reproduktionen in Museumskatalogen, die 15 Jahre alt sind, vieles aussetzen. Mit Fotobänden geht es mir ebenso. Sie altern schnell. Erst vor einigen Jahren ist ein überdimensioniertes Buch mit Bildern von Helmut Newton erschienen. Selten hat mich etwas so gelangweilt!

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer