Panahi

Filmfestspiele Cannes 2025: eine Goldene Palme für die Unbeugsamkeit

Mit einem Sieg des Humanismus und des Widerstands ging das gewichtigste Filmfestival der Welt am Samstag zu Ende. Für seinen Rache-Thriller „Un simple accident“ gewann der iranische Kinodissident Jafar Panahi die Palme in Gold.

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Kurz vor Ende der Veranstaltung gingen die Lichter aus. Nach einem Akt der Sabotage, einem gelegten Umspannwerksbrand, kam es in Cannes am Samstag vormittag zu massiven Stromausfällen. Das bekannt straff organisierte Filmfestival geriet dadurch jedoch kaum aus dem Tritt. Die Notstromaggregate sorgten nach wenig mehr als einer Viertelstunde Pause in fast allen Festspielkinos für eine reibungslose Fortsetzung der Projektionen. Und auch die Preisverleihung am frühen Abend wurde störungsfrei durchgeführt.
Die Jury, geleitet von der Schauspielerin Juliette Binoche, traf nachvollziehbare Entscheidungen, markierte erstaunlich zielgenau die wesentlichen Werke des Wettbewerbs. Die begehrte Palme d’or wurde einem Film zugesprochen, der den geschützten Raum der politischen Widerständigkeit gar nicht nötig hat: Denn Jafar Panahis „Un simple accident“ wäre auch abgesehen von seiner respektgebietenden Oppositionshaltung zum iranischen Mullah-Regime eine schlicht großartige Inszenierung. Die Erzählung von der Entführung eines ehemaligen Gefängnisfolterers und dem Versuch seiner Opfer, dessen Identität zweifelsfrei festzustellen, ehe man blutige Rache an ihm nehmen will, stellt die Frage zur Debatte, ob (und welche) Gegengewalt zur Brutalität der Tyrannen und ihrer Schergen zulässig sei. 

Das hohe persönliche Risiko, das Panahi, der seit 30 Jahren Filme gegen die Barbarei seiner Regierung macht, gemeinsam mit seinem Team und seinen Schauspielkräften auf sich zu nehmen bereit ist, verblüfft. Nach wie vor lebt der Filmemacher im Iran, zweimal musste er bereits Haftstrafen verbüßen, zuletzt 2023; trotz Arbeitsverbot ab 2010 drehte er unbeirrt weiter, auch „Un simple accident“ entstand heimlich. Niemand weiß, wie die iranischen Machthaber auf diesen neuerlichen Welterfolg Panahis, auf einen Film, der sich der staatlichen Repression und den religiösen Geboten im Iran radikal widersetzt, reagieren werden. Aber die bloße Existenz dieses Films führt vor, dass der Widerstand gegen den Autoritarismus niemals kleinzukriegen sein wird: ein Triumph des Humanismus in Zeiten des sich ausbreitenden Grauens.
Auch der Regisseur eines - ungleich privater erscheinenden – Films, der den Grand Prix der Jury errang, spricht im profil-Interview von der dringenden Notwendigkeit, dem Ungeist der Zeit entgegenzusteuern: Die wahre Subversion in einer Ära der sich überall hochschraubenden Aggressivität sei die Zärtlichkeit: Die Herzenswärme sei der neue Punk. Der Norweger Joachim Trier, dessen Tragikomödie „The Worst Person in the World“ 2021 in Cannes den Preis für die beste Darstellerin (Renate Reinsve) erhalten hatte, war mit dem Familiendrama „Sentimental Value“ an die Croisette zurückgekehrt. Wieder agiert Renate Reinsve im Zentrum des Films, als schauspielende Tochter eines narzisstischen Kinoregie-Altmeisters (Stellan Skarsgård). 

Sirat

Den regulären Preis der Jury vergab man ex aequo: an Óliver Laxes Tabus sprengendes Techno-Wüsten-Road-Movie „Sirât“ sowie an die avantgardistische Familienchronik „Sound of Falling“ der deutschen Filmemacherin Mascha Schilinski. Als besten Regisseur erkannte man völlig zu Recht den Brasilianer Kleber Mendonça Filho, dessen exzentrisch-differenzierter Gangsterfilm „The Secret Agent“ einen Höhepunkt des Festivals darstellte (profil berichtete). Auch eine der Schauspielauszeichnungen ging an dieses Werk: an Wagner Moura, bekannt aus der Serie „Narcos“. 

Secret Agent

Zur besten Darstellerin krönte man eine junge Schauspielamateurin, die Französin Nadia Melliti, die Hafsia Herzis queeres Sozialdrama „Die jüngste Tochter“ trägt. Das beste Drehbuch der 78. Filmfestspiele in Cannes ging indes an zwei alte Meister des Kino-Naturalismus: an das belgische Brüderpaar Luc und Jean-Pierre Dardenne, das mit „Jeunes mères“ die psychischen und gesellschaftlichen Probleme von Teenager-Mutterschaft umkreist.

Jeunes mères

Ein Spezialpreis der Jury ging zudem an den jungen chinesischen Regisseur und Dichter Bi Gan, dessen traumtänzerische, von deutschen Stummfilmen inspirierte dritte Regiearbeit „Resurrection“ heißt: lyrisches Trance- und Rätselkino, auch dies eine rare und schützenswerte Spezies des globalen Autorenfilms.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.