Cannes
Kino

Futter für die Erregungszentrifuge: Zum Start des Kinospektakels in Cannes

Ein verurteilter Ex-Stargast, ein brüllender Quentin Tarantino – und Kulturkampf auf offener Bühne: Turbulent eröffneten die 78. Filmfestspiele in Cannes ihren Betrieb.

Drucken

Schriftgröße

Große Filmfestivals, das waren einmal Orte, an denen man prominent besetzte Weltpremieren und die schillernden Auftritte verhaltensauffälliger Publikumslieblinge (oder strategisch sich aufspielender Kinostars in spe) erleben konnte. Dieser Kernauftrag hat sich, weil die sozialmediale Erregungszentrifuge dies so will, deutlich erweitert: Inzwischen haben Filmfestspiele wie jenes, das gestern Abend im südfranzösischen Cannes gewohnt zeremoniell eröffnet wurde, gewohnheitsmäßig auch Untergangsspektakel und Ideologiekämpfe, persönliche Tragödien und politische Notrufe im Angebot. Drama, Baby! Aber so ist es eben: Ohne schrille News kein TikTok-Viral-Alarm.

Insofern kam es den digitalen Aufmerksamkeitsökonomen zupass, dass der 76-jährige Schauspieler Gérard Depardieu just am Tag der Festivaleröffnung des sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen wurde: Dem Künstler werden schwere Übergriffe gegen eine Regieassistentin und eine Filmausstatterin vorgeworfen; eine 18-monatige Bewährungsstrafe wurde – noch nicht rechtskräftig – verhängt, und Depardieus Name soll in das französische Register für Sexualstraftäter aufgenommen werden. Sein Verteidiger will in Berufung gehen. Ein weiterer Prozess, in dem der Schauspieler einer Vergewaltigung bezichtigt werden soll, ist in Vorbereitung. 

Tags zuvor noch hatte Cannes-Festivalchef Thierry Frémaux auf die Frage, wie er mit seinem langjährigen Stargast Depardieu umgehen werde, ausweichend geantwortet, dass er die rechtsstaatliche Ordnung respektiere, egal, wie der Prozess ausgehen möge – und dass er aber heilfroh sei, die Pressekonferenz vor dem Urteilsspruch abzuhalten.

Ein anderer großer alter Akteur des Weltkinos nahm die Gelegenheit wahr, zur Eröffnung zum Aktivismus aufzurufen und gegen die in seiner US-Heimat neuerdings staatlich verordnete Kunstfeindlichkeit zu polemisieren: Der New Yorker Ausnahmeschauspieler Robert De Niro, 81, der in Cannes gestern für sein Lebenswerk mit einer Ehren-Palme in Gold ausgezeichnet wurde, verwies auf die „Bedrohung für Autokraten und Faschisten“, die von der Kunst, einem Instrument der Diversität und der Demokratie, ausgehen könne. Deshalb werde in den USA gerade auch so heftig an der Kultursubvention gesägt. Den aktuellen Präsidenten nannte er einen „Philister“, einen Feind der Künste, der Geisteswissenschaften und der Bildung, gegen den mit aller Kraft zu kämpfen sei. „Wir müssen jetzt handeln, mit Leidenschaft und Entschlossenheit. Es ist an der Zeit, dass jeder, dem die Freiheit am Herzen liegt, sich organisiert und protestiert.“

Turbulenzen gab es zum Cannes-Einstieg 2025 aber auch sonst in stattlicher Zahl: Unmut etwa provozierte das Cannes-Gastspiel des neuen, rund 400 Millionen Dollar teuren „Mission Impossible“-Zirkus, des achten, nunmehr fast dreistündigen Films der Serie, der heute Abend in Anwesenheit von Körperaktions-Superstar Tom Cruise zur Europa-Premiere kommen soll. Denn sowohl die obligate Pressekonferenz als auch alle Interviews wurden seitens der Produktion abgesagt, ein No-Go und Tabubruch im Filmjournalismus. 

Zudem musste sich Frémaux, der weiterhin („bis es Frieden gibt“) russische Filme aus seiner seléction officielle verbannt hat, dem nicht ganz neuen Vorwurf chauvinistischer Programmierung stellen. So hat er etwa sämtliche Masterclasses im Programm männlichen Regisseuren gewidmet. Er konterte mit dem Umstand, dass dafür alle vier Jurys weiblich geleitet werden, das zentrale, in zehn Tagen die Goldene Palme 2025 vergebende Gremium etwa mit der bedeutenden Schauspielerin Juliette Binoche. Und offiziell eröffnet wurde das Festival von Quentin Tarantino, der die Routine-Floskel genüsslich in den Raum brüllte, ehe er das Mikrofon betont achtlos von sich warf und davonstapfte.

Ins Hintertreffen geriet über all den kleinen und größeren Aufregungen nur das Kino selbst. Mit der Wahl seines Eröffnungsfilms war Frémaux aber auch das zweifelhafte Kunststück gelungen, einen an wirklich allen gegenwärtig relevanten Themen großzügig vorbeizusegeln. „Partir un jour“, die von der Französin Amélie Bonnin inszenierte Geschichte einer Spitzenköchin (gespielt von der Sängerin Juliette Armanet), die es ins Provinzgasthaus ihrer anstrengenden Eltern und in die Arme ihrer Jugendliebe verschlägt, ist ein Regiedebüt, ein leider belangloses romantisches Musical ohne jeden denkwürdigen Moment: der bleiche Wiedergänger eines feelgood movie, eine leere Nostalgieübung. Welche Branchen-Absprachen hinter den Kulissen dazu geführt haben, ausgerechnet diesen Film an den Beginn des sonst nicht zur Selbstunterschätzung neigenden Festivals an der Croisette zu setzen, bleibt vorläufig Frémaux’ Geheimnis. 

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.