Klassik

Gegen alle Widerstände: Die Pionierinnen der E-Musik

Unerhörtes lagert im Staub der Archive: Der globale Klassikbetrieb entdeckt lange verkannte und unterdrückte Komponistinnen.

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Die italienische Barock-Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619–1677) – ihr Bild hängt in den Administrationsräumen des Wiener Musikvereins – war nicht mit dem Maler Bernardo Strozzi verwandt, der sie gleichwohl porträtiert hat. Die früh verstorbene Fanny MenDdelssohn (1805–1847) und Clara Schumann (1819–1896) sahen sich mit bedeutenden Tonsetzern der Romantik verbunden, die eine verschwistert (mit Felix Mendelssohn Bartholdy), die andere liiert (mit Robert Schumann). Und die Französin Nadia Boulanger (1887–1979) war eine gesuchte Lehrerin, sie unterrichtete spätere Weltstars wie Aaron Copland, Philip Glass und Astor Piazzolla.

italienische Barock-Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619–1677) – ihr Bild hängt in den Administrationsräumen des Wiener Musikvereins – war nicht mit dem Maler Bernardo Strozzi verwandt, der sie gleichwohl porträtiert hat. Die früh verstorbene Fanny MenDdelssohn (1805–1847) und Clara Schumann (1819–1896) sahen sich mit bedeutenden Tonsetzern der Romantik verbunden, die eine verschwistert (mit Felix Mendelssohn Bartholdy), die andere liiert (mit Robert Schumann). Und die Französin Nadia Boulanger (1887–1979) war eine gesuchte Lehrerin, sie unterrichtete spätere Weltstars wie Aaron Copland, Philip Glass und Astor Piazzolla.

Die genannten Komponistinnen mussten, wie so viele andere, lange im Schatten ihrer männlichen Konkurrenz verharren, nun werden sie in großem Stil auf die Konzertbühnen gehoben. Was lange nur ein Anliegen der feministischen Musikwissenschaft war, scheint endlich zum Mainstream zu werden. Denn der Klassikbetrieb, der nicht ganz unberechtigte Angst davor hat, als Silbersee der Vergreisten zu gelten, will es gegenwärtig sehr genau wissen. Nach der Konjunktur weiblicher Instrumentalkunst und dem internationalen Boom der Dirigentinnen auf den Podien und in den Orchestergräben setzt man sich nun also auch mit Musikschöpferinnen genauer auseinander und geht dabei weit in die Historie zurück.

Zeitenwechsel

Das Lucerne Festival rief 2016 PR-trächtig einen „Women’s Day“ aus, reagierte damit eigentlich schon sehr spät auf den Zeitenwechsel. Klar, die Primadonnen, von der aktuell etwas kriegsbefleckten Anna Netrebko über Renée Fleming, Sonya Yoncheva bis zu den vokal tiefer liegenden Damen Cecilia Bartoli, Elīna Garanča oder Joyce DiDonato, waren stets gern gesehen. La Bartoli ist inzwischen sogar Doppelintendantin bei den Salzburger Pfingstfestspielen und an der Opéra de Monte-Carlo. Einzig die Komponistinnen bleiben lange unterbelichtet. Die 91-jährige, seit 1992 in Deutschland lebende Russin Sofia Gubaidulina, die unlängst mit erst 70 Jahren an einem Gehirntumor verstorbene Finnin in Paris, Kaija Saariaho, die in Berlin residierende Koreanerin Chin Un-suk, 61, oder die Österreicherin Olga Neuwirth, 54, sie alle können sich Kompositionsaufträgen und Composer-In-Residence-Anfragen kaum noch erwehren. Und so eifrig wie hektisch werden derzeit die Archive durchforstet, um noch mehr von Frauen verfasste Partituren dem Staub der Vergangenheit zu entreißen.

Im Online-Klassikmagazin „VAN“ ist der Autor Arno Lücker in einer speziellen Porträtserie bereits kurz vor Komponistin Nummer 250 angelangt, im Herbst wird daraus ein Buch werden. Auch die gern nach Kontroversem schürfende junge Cellistin Raphaela Gromes hat auf einer Doppel-CD namens „Femmes“ (Sony) unlängst 23 Komponistinnen vereint. Sie konzentriert sich dabei auf Miniaturen, wie sie etwa von der Amerikanerin Amy Beach (1867–1944) geschaffen wurden; Beach war zwangsverheiratet worden, durfte nur unter dem Namen ihres Mannes einmal im Jahr eigene Werke aufführen lassen. 1896 brachte sie unter diesen Umständen die „Gaelic Symphony“ zur Uraufführung, die erste Sinfonie einer Amerikanerin überhaupt.

Tonangebendes Patriarchat

Im Sog von Black Lives Matter erfährt die Afroamerikanerin Florence Price (1887–1953) beim Philadelphia Orchestra, das sie 1933 ein einziges Mal gespielt hatte, unter dem Dirigenten Yannick Nézet-Séguin nun sogar die Ehre eines mehrjährigen Projekts: Sämtliche Konzerte und Sinfonien der ersten schwarzen US-Komponistin sollen erklingen. Von „unverständlicherweise vergessenen musikalischen Meisterwerken“ ist die Rede. Aber wirklich verschüttet war – die eigentlich recht konventionell komponierende – Price nicht. Ihre Sinfonien klingen ein wenig nach dem Spätwerk Dvořáks, verwoben mit Spirituals; spannender erscheinen die von dem jungen Geiger Randall Goosby wirkungsvoll eingespielten Violinkonzerte der Tonsetzerin.

Enzyklopädisch geht die auf französische Musik der Romantik spezialisierte Stiftung Palazzetto Bru Zane vor, die in einer ockerfarbenen Box mit acht CDs in zehn Hörstunden immerhin 165 Werke von 21 „Compositrices“ akustisch ausleuchtet: Die Werkmischung bietet auf jeder Scheibe ein imaginäres, möglichst buntes Konzertprogramm diverser Genres. Kammermusik und Liederzyklen sind dabei, wenig überraschend, die Regel. Denn die mutigen Damen durften zwar irgendwann an die Konservatorien, waren singend, spielend und eben auch komponierend in vielen bourgeois-plüschigen Salons willkommen. Aber so wie Malerinnen meist auf spezielle Akademien geschickt wurden oder ohne Aktklasse auskommen mussten, so ließ man die Komponistinnen, die oft aus wohlhabenden Häusern oder als Töchter musizierender Familien aus Profi-Umgebung stammten, nicht oder nur unter großen Mühen an die Orchester und die Operninstitutionen. Dort gab bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Patriarchat den Ton an.

Das Geschlecht verschleiern

Die genannte, in Venedig residierende Stiftung Palazzetto Bru Zane kümmert sich seit bald 15 Jahren um vergessene Musik aus Frankreich, erschaffen zwischen 1780 und 1920, und sie hat dabei mehrfach auch Komponistinnen gewürdigt, aber nie zuvor so konsequent. Ihre Konzert-Saison 2022/23 erlebte vergangene Woche am Pariser Théâtre des Champs-Élysées mit der neuzeitlichen Wiederaufführung von Louise Bertins „Fausto“-Oper ein triumphales Finale (siehe Kasten links); in der Edition „Compositrices“ finden sich nicht nur viele Erstaufnahmen – vier Komponistinnen wurden noch nie zuvor aufgenommen. Mélanie Hélène „Mel“ Bonis (1858–1937) ist mit mehreren Klavierwerken, Liedern, einer Cellosonate und dem Orchesterwerk „Les femmes de legends“ prominent vertreten, sie verbindet lang gezogene Melodien mit subtil impressionistischen Harmonien. Wie viele andere Komponistinnen schrieb sie unter einem ihr Geschlecht verschleiernden Pseudonym (Mel Bonis), ihre Eltern zwangen sie zeitweise in den Verkäuferinnenberuf. Etwas bekannter ist Cécile Chaminade (1857–1944), die 1913 als erste Komponistin Mitglied der Ehrenlegion wurde. Mezzostar Anne Sofie von Otter widmete ihr schon vor 20 Jahren eine CD.

Lili Boulanger (1893–1918), die kompositorisch vielleicht noch begabtere, schon mit 25 nach schwerer Krankheit verstorbene Schwester Nadias, hatte 19-jährig als erste Frau überhaupt in seiner 110-jährigen Geschichte des Grand Prix de Rome ebendiesen gewonnen. Auch sie wird in der CD-Edition gewürdigt, wo Nadias Rom-Kantate „La Sirène“ ebenfalls überrascht.
Als Sinfonikerinnen durchsetzen konnten sich, zumindest eine Zeit lang, in Frankreich Luise Farrenc (1804–1875) und in Deutschland Emilie Mayer (1812–83), die „der weibliche Beethoven“ genannt wurde. Farrenc war eine blendende Pianistin und die erste Konservatoriumsprofessorin in Paris. Sie gründete mit ihrem Mann einen Musikverlag, in dem auch ihre eigenen Werke erschienen, so die in den 1830er- und 1840er-Jahren geschriebenen, klassizistisch-straffen Sinfonien, Ouvertüren und Orchestervariationen. Nach ihrem Tod geriet Farrencs Werk in Vergessenheit, jüngst hat sich (neben anderen) vor allem die Dirigentin Laurence Equilbey mit ihrem Insula Orchestra für die Französin auf zwei Erato-CDs stark gemacht.

Emilie Mayer war Vizechefin der Berliner Opernakademie und Ehrenmitglied der Philharmonischen Gesellschaft in München, ihre acht romantisch-schlanken Sinfonien wurden in ganz Europa gespielt – und nach ihrem Tod vergessen. Noch sind es Provinzorchester wie die Brandenburger Sinfoniker, die ihre Werke präsentieren, oder das Philharmonische Orchester Bremerhaven, die diese auch einspielen. Aber der Trend schwappt langsam in die Musikmetropolen.

Kampf gegen das Vergessen

In Berlin hat das Deutsche Symphonie-Orchester für jedes Konzert seiner kommenden Saison ein Komponistinnen-Werk vorgesehen, historisch oder zeitgenössisch. In Linz ist unter dem Motto „Aufbruch – Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“ im kommenden Oktober das Bruckner-Fest den „Musen, Musikerinnen, Mäzeninnen, Widmungsträgerinnen und Komponistinnen“ gewidmet. Das ORF Radio-Symphonieorchester (RSO) spielt seit 2019 unter seiner Chefin Marin Alsop weiterhin verstärkt Werke zeitgenössischer Tonschöpferinnen. Als „Komponistin im Fokus“ soll die in Berlin lebende Britin Rebecca Saunders am Wiener Musikverein in der Saison 2023/24 starke Akzente setzen. In der laufenden Spielzeit war dort die chinesische Dirigentin Elim Chan Porträtkünstlerin, die mit dem RSO auch im– noch immer recht chauvinistisch aufgestellten – Salzburg im kommenden Festspielsommer das einzige Konzert einer Dirigentin bestreiten wird.

Längst also sind nicht alle Hausaufgaben gemacht, der Betrieb aber wird langsam wach und müht sich, sanft sensibilisiert, um neue Geschlechtergerechtigkeit. Das Vergessen ist leider unabdingbarer Teil der Musikgeschichte: Nur rund zwei Prozent all derer, die je aktenkundig komponiert haben, sind ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und damit in die Repertoirekataloge des Konzertbetriebs gedrungen. Das historische Unrecht, das den komponierenden Frauen widerfahren ist, wird dadurch freilich nicht geringer.