Interview

Hanna Schygulla: „Das war auch eine Form der Besessenheit“

Schauspielerin Hanna Schygulla beschwört mit ihrem Gastauftritt in François Ozons „Peter von Kant“ ihre Zeit mit dem umstrittenen Regisseur Rainer Werner Fassbinder wieder herauf. Im profil-Gespräch erinnert sie sich an Ruhm und Elend ihrer Karriere.

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Viele Überlebende des legendären Fassbinder-Clans, der in den 1970er-Jahren das Kino der Bundesrepublik aufwirbelte, gibt es nicht mehr, Hanna Schygulla ist (wie Ingrid Caven und Margit Carstensen) eine davon. In Fassbinders melodramatisch-komödiantischem Frauenkammerspiel „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (Untertitel: „Ein Krankheitsfall“) stellte sie 1972 eine manipulative Schöne dar, die zur Auslöserin einer privaten Katastrophe wird. Fassbinder porträtierte sich in der von Carstensen gespielten Titelheldin selbst, was Regisseur François Ozon nun, 50 Jahre später, in seinem Remake des Klassikers aufgreift. In „Peter von Kant“ sind die Tränen nicht mehr bitter, und die Hausherrin, ihre junge Geliebte sowie ihre stumme Dienerin (einst: Irm Hermann) sind nun Männer  – Denis Ménochet, Stefan Crepon und Khalil Ben Gharbia. Ménochet ist in Statur, Temperament, Kokain und Kleidung Fassbinder sogar zum Verwechseln ähnlich. Wo das Original den Irrsinn einer unbedingten Liebe mobilisierte, übt sich Ozon eher in überpointiertem Design und schickem Trash, zu dem Nebendarstellerin Isabelle Adjani perfekt passt – und Hanna Schygulla, die gegen Ende als Peters Mama auftaucht, eigentlich gar nicht.

In 20 Fassbinder-Filmen trat sie zwischen 1969 („Liebe ist kälter als der Tod“) und 1981 („Lili Marleen“) auf. Mit einem Foto, das sie – wie eine Widmung – mit ihrem Mentor zeigt, endet Ozons Remake. Heute ist Hanna Schygulla, 78, eine Gelegenheitsarbeiterin im Kino und eine Pendlerin zwischen Berlin und Paris, wo sie bereits seit über 30 Jahren lebt. Das Gehen fällt ihr ein wenig schwer, seit sie sich „ein Ischias-Leiden als Langzeit-Covid-Effekt angelacht“ habe. Ihrem politischen Engagement tut dies keinen Abbruch. Schygulla arbeitet in Berlin mit jungen Geflüchteten und sagt: „Ich war ja selbst ein Flüchtlingskind. “ Ihre Mutter hatte 1945 mit der einjährigen Hanna aus Oberschlesien nach München fliehen müssen.

In Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ stellten Sie 1972 sehr maliziös das geliebte Objekt der von Margit Carstensen gespielten Titelheldin dar. Wie erinnern Sie sich an die Dreharbeiten?
Schygulla
Es war unglaublich. Das waren die schnellsten Dreharbeiten, die ich mit Fassbinder je erlebt habe. In zwei Wochen war alles im Kasten. Ursprünglich hatte Fassbinder diese Geschichte ja als Theaterstück geschrieben, und so verfilmte er das auch: ohne die üblichen langwierigen Ortswechsel mit jeweils neuem Einleuchten der Szenerie. Das konnte alles in einem Fluss gedreht werden. Er war sowieso ein immens schneller Arbeiter, die anderen Leute vom neuen deutschen Film konnten gar nicht so schnell schauen, wie er schon wieder das nächste Werk vorlegte. Insofern war er eine Art Schrittmacher der Bewegung.
40 Jahre nach Fassbinders Tod ist er immer noch ein Rätsel: Wie konnte er – neben der Theaterarbeit und dem Drehbuchschreiben – mehr als 40 große Filme in nur 13 Jahren inszenieren?
Schygulla
Das war phänomenal. Es gibt keinen Zweiten wie ihn. Das war natürlich auch eine Form der Besessenheit.
Er war bekanntlich ein Schwieriger. Sie sagten einmal, er konnte beispielsweise nicht loben; wenn er nichts sagte nach einer Szene, war das schon das Höchste der Gefühle. Das muss für eine junge Schauspielerin auch problematisch gewesen sein.
Schygulla
Nein. Man hat schon gewusst, ob ihm etwas gefällt oder nicht. Er konnte so schnell arbeiten, weil er immer davon ausging, es müsse ja nicht perfekt sein. Er sagte auch gerne: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ Er nahm sich die Freiheit, die Dinge aus jeweils neuer Perspektive zu betrachten. Was für den einen Film galt, musste nicht für den nächsten gelten. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, davon ging er aus.
François Ozon hat Fassbinders „Petra von Kant“-Film nun unter dem Titel „Peter von Kant“ ein Remake zur Seite gesetzt. Im Titelhelden lässt er zudem eine Art Fassbinder-Porträt anklingen.
Schygulla
Auch in der Kleidung, ja. Ich selbst war sogar sehr irritiert, weil der Schauspieler Denis Ménochet ihm dermaßen geähnelt hat.
Das ist schon stimmig, Fassbinder hatte sich ja einst selbst in Petra von Kant gesehen, oder? Waren seine „Bitteren Tränen“ ein Selbstporträt?
Schygulla
Er hat sich an seinem persönlichen Leidensweg mit anschließendem Erkenntnisgewinn abgearbeitet. Das Thema des Films ist in seinem zentralen Satz formuliert: „Ich hab’ sie gar nie geliebt, ich wollte sie nur besitzen.“
Fassbinder erzählt vom Irrsinn der Liebe.
Schygulla
Ja, über diese Verwechslung von Liebe mit Eigentum. Wir sind alle viel zu sehr auf Besitz fixiert. Auch viele andere Utopien konnten aus diesem Grund nie wahr werden; Gorbatschow hat noch gesagt, als der Ostblock mit seiner Hilfe zerfallen war: „Unser Fehler war vermutlich, dass wir den Leuten nie ihren Vorgarten gelassen haben, das kleine Stückchen Besitz.“ Ich konnte das auch jedes Mal feststellen, wenn ich in die DDR gereist war, was ich einmal im Jahr tat, weil ich dort Verwandte hatte: Alles, was als Gemeinschaftseigentum galt, war vollkommen vernachlässigt. So sind die Menschen: Haben statt Sein. Dies theoretisierten nach 1968 auch Leute wie Herbert Marcuse. Es war eine existenzielle Herausforderung, sich vom reinen Besitzdenken wieder zu lösen. Und wir sehen jetzt ja, wohin uns die Konsumgesellschaft, der unbeschnittene Profit der Konzerne und die sich stetig vergrößernde Menge der Armen bringen. Alles gerät an den Rand des Abgrunds. Keiner wollte es so richtig wahrnehmen. Dabei warnten sogar Leute wie der nicht gerade links orientierte französische Ex-Premier Jacques Chirac die Öffentlichkeit schon vor 20 Jahren: Unser Haus brennt, und wir schauen weg. Diese Situation ist eingetreten. Die ganz Jungen kriegen das nun zu spüren.  
Wir sind offenbar kaum lernfähig. Es gelingt uns nicht, über den Augenblick hinauszudenken.
Schygulla
Wir wollen es nicht wahrhaben. Weil es zu viel Angst macht – und unsere Strukturen zu zäh sind. Obwohl mich ab und zu kleine Etappenerfolge auch überraschen. Auch Fassbinder hat stets Existenzielles in seine Außenseitererzählungen gepackt: Im schwulen Milieu läuft es eben auch nicht anders als bei den sogenannten Bürgerlichen.
Darauf wies er gern ironisch hin: Seine Filme betreffen alle, gerade auch das saturierte Kleinbürgertum.
Schygulla
Seine Methode war die Verfremdung. Überhaupt war die Nachkriegsgeneration viel näher an Bertolt Brecht, als jemals zugegeben wurde. Es hat sich doch lange niemand auf Brecht berufen. Auch Fassbinder nannte, wenn er über Verfremdung sprach, kaum je Brecht, er zitierte lieber die Brecht-Schülerin Marieluise Fleißer.
Fassbinder war ein Liebhaber des Künstlichen, eines bewusst „erhöhten“, stilisierten Schauspiels. War es am Set immer klar, dass man bei Fassinder auf diese bestimmte Weise zu spielen hatte?
Schygulla
Das ergab sich schon durch die von ihm forcierte Mischung aus sehr erfahrenen Schauspielern wie Margit Carstensen, Volllaien wie Irm Hermann und Halblaien wie mich. Ich war zwar auf der Schauspielschule, aber nach ein paar Wochen wieder abgegangen. In der Wiederholung, fand ich, wurde ich immer schlechter, also dachte ich, das sei nichts für mich. Aber Fassbinder, der in meiner Klasse war, hatte damals schon die blitzartige Erkenntnis, dass ich in seinen Filmen einmal ein Motor oder ein Eckpfeiler sein würde. 
Schauspiel wird ja nicht nur an Schulen gelehrt. Es ist auch eine Intuition.
Schygulla
Klar. Und der frühe Fassbinder hatte die Begabung, aus dem, was ihm zur Verfügung steht, einen Stil zu entwickeln. Er versuchte gar nicht, uns zur gängigen Schauspielkunst zu bringen. Er hat auch das Aroma geschätzt, das ihm das halblaienhafte Spiel brachte, ebenso wie die bei Carstensen immense Fähigkeit, alles umzusetzen. Aber auch sie versuchte er immer wieder aus dem Konzept zu bringen. Er sagte dann beispielsweise plötzlich an: „In fünf Minuten drehen wir die ganz große Szene.“ Ausgerechnet jene Szene, in die sie sich hysterisch hineinzusteigern hatte, zog er ohne Ankündigung vor! Und sie machte das immer unglaublich gut. „Petra von Kant“ wurde später an unzähligen Bühnen gespielt und ging dort so gut, dass man mit den Einnahmen die Restaurierung der Fassbinderfilme mitfinanzieren konnte.
Fassbinder brachte sein Ensemble gern aus dem Tritt, um etwas in ihm auszulösen?
Schygulla
Er tat das nicht immer, aber es gelang ihm oft, aus sehr routiniert agierenden Menschen etwas höchst Unroutiniertes herauszuholen. Nehmen Sie Brigitte Mira: Das war eine etablierte Operettendiva, die er völlig anders einsetzte. Und wie unheimlich ergreifend sie spielte! Ohne einen draufzusetzen. Dabei war sie es gewohnt, alles zu überdrehen, das war ihre Operettenkunst. Er ließ sie aber ganz bei sich bleiben, nahm alles Überflüssige weg.
Dafür braucht es aber auch die Offenheit, sich auf etwas völlig Neues einzulassen.
Schygulla
Ja, die haben einander sehr gemocht. Fassbinder stand älteren Frauen sehr positiv gegenüber, er war ja zum Teil von seiner Großmutter aufgezogen worden.
Als junge Frau fühlten Sie sich von ihm weniger gut behandelt?
Schygulla
Nein, ich hatte bei ihm eine Sonderstellung. Er wusste, dass ich mich, wenn er mich schlecht behandelte, umdrehen würde und weg wäre. Das wollte er nicht riskieren. Andere wiederum konnte er durch Schlechtbehandlung zu allem Möglichen reizen. Aus mir holte er das Beste heraus, indem er mich gut behandelte. Aber auch zwischen uns gab es Brüche.
Sie zerstritten sich einmal, als sie zufällig herausfanden, dass er anderen viel mehr Honorar zahlte als Ihnen.
Schygulla
Das war nur ein Aufhänger. Ich hatte mir damals endgültig vorgenommen, nicht mehr den Mund zu halten. Wir hatten ja lange eine ganz seltsame, stumme Beziehung, haben kaum ein privates Wort gewechselt.  
In all den Jahren?
Schygulla
Ja. Es war eine Art Habtachtstellung.
Wer stand vor wem Habtacht? Sie beide voreinander?
Schygulla
Ja. Nur nicht zu viel reden. Wir wollten unser Verhältnis nicht gefährden. Aber ich habe es dann doch gefährdet – und zwar mehr, als ich wollte. Nach dem Dreh der „Bitteren Tränen der Petra von Kant“ sagte ich zu ihm: „Ach Rainer, lass mich doch in Zukunft aus solchen Rollen raus.“ Er war total beleidigt.
Warum wollten Sie denn derart exponierte Parts nicht mehr spielen?
Schygulla
Weil mir das nicht gefallen hat. Ich erkannte auch instinktiv, dass er an seiner Erkenntnis litt: dass jede Liebe zum Machtspiel verkommen müsse. Er konnte an die Liebe nicht glauben, dadurch erfuhr er sie auch nie richtig. Er musste stattdessen stets Abhängigkeit hervorrufen. Das war eine ganz tragische Verwicklung bei ihm.
Deshalb irritierte Sie die Rolle der Karin Thimm in „Petra von Kant“ so? Weil Sie dieses kranke Liebesverständnis darstellen mussten?
Schygulla
Ja, ich war da diejenige, die ihn, gespielt von Carstensen, ausgenützt hat. Und das vermutete er ja in Wahrheit immer: Keiner liebe ihn um seinetwillen, alle wollten ihn nur ausbeuten.
So privat gedacht war dieser Film? Hätten Sie sich nicht einfach als Profi begreifen und alles Persönliche rauslassen können?
Schygulla
Ich war ja aber eben kein Profi.
Doch, 1972 waren Sie es schon.
Schygulla
Nein, das war lange vor „Maria Braun“ und Lili Marleen“. Fassbinders Werke damals waren Undergroundfilme.
„Fontane Effi Briest“ war 1974 der erste „große“ seiner Filme?
Schygulla
Ja, und es ist wohl kein Zufall, dass genau davor der erste Bruch zwischen uns kam. Als er mir ankündigte, dass wir als nächstes „Effi Briest“ machen würden, gefolgt von all den weiteren Projekten, sagte ich: „Rainer, gib mir doch mal eine Pause.“ Das rutschte mir so raus. Und es wirkte wie ein Hammer, denn ich hatte mich dazu nie richtig geäußert. Aber ich meinte das wirklich so. Er hatte den Glauben an die Liebe verloren. Irgendwann verfestigte sich das, und dann kam dieser Wall aus Fett um ihn herum. Solche Verfettungen sprechen ja immer eine eigene Sprache. Danach ließ er kaum noch etwas an sich heran. Und das wurde zu einem seiner Hauptthemen: Jede Liebe läuft auf ein Machtspiel hinaus. Da ist ja auch was dran. Und es ist wie eine Hypnose: Der andere wird, was man in ihm sieht. Und Fassbinder sah viel in den Leuten. Bei mir merkte er, dass ich alles aufs Spiel setzen könnte. Ich bat ihn um eine Pause, daraus wurden dann gleich vier Jahre.
Wollten Sie, als Sie ihn um eine Pause baten, mit anderen drehen oder tatsächlich einfach nur kurz Ruhe?
Schygulla
Ich wollte nur eine Pause. Effi Briest war eigentlich eine meiner Wunschrollen. Es wurde ein wunderbarer Film, aber ich erkannte das damals nicht. Ich sah nur mich – als eine in ihrer Introvertiertheit Gefangene. Fassbinder hat auch da vom uneigentlichen Leben berichtet.
Beriet sich Ozon, als er seinen Film drehte, mit Ihnen? Kaum jemand kannte Fassbinder besser als Sie.
Schygulla
Nein, er wollte von mir nur wissen, wie Fassbinders Mutter, die in etlichen seiner Filme auftaucht, persönlich war. Denn ich spielte sie ja. Fassbinders Mutterfiguren sind ja oft recht unterkühlt.
Wollte Ozon, dass Sie diese Mutterrolle nah an der realen Lilo Pempeit anlegen?
Schygulla
Nein, ich teilte ihm mit, dass ich diese Figur anders spielen würde, sicher wärmer. Trotzdem war ich, hart gesagt, gefangen in der gesellschaftlichen Verblödung dieser Frau. Sie versucht im Film ihren Sohn zu trösten, bleibt aber erfolglos, weil sie nicht von sich selbst spricht. Das ist kein echter Dialog. Die beiden reden aneinander vorbei.
Ozon bleibt einerseits ganz nah an Fassbinders Original, meist bis in den Wortlaut des Drehbuchs, andererseits nimmt er sich gewisse Freiheiten der Interpretation.
Schygulla
Bei Ozon wird die Geschichte glaubhafter, naturalistischer. Bei Fassbinder spielen alle wie Marionetten, die an unsichtbaren Fäden gezogen werden. Das hat auch seine Vorteile. Ozons Fassung tendiert oft ins Überdeutliche. Von manchem riet ich Ozon ab: Das Spucken des Faktotums etwa am Ende des Films fand ich gar nicht stimmig. Die Szene ist im Original viel stärker, subtiler und rätselhafter.
Ozon psychologisiert den Stoff eben.
Schygulla
Er hat an Künstlichkeit verloren und an Deutlichkeit gewonnen. Sein Film ist viel leichtere Kost.
Interessant auch, dass Fassbinders Film eine gute halbe Stunde länger dauert.
Schygulla
Damals spielte man so langsam. Es sollte etwas Schlafwandlerisches haben. Zum Teil brachte auch ich die Verlangsamung da rein, weil ich durch meine Introvertiertheit eine fast lethargische Art hatte. Nach „Effi Briest“ aber, wo ich erneut so passiv wirkte, wollte ich mich regelrecht umerziehen. Ich nahm mir vor, einfach alles zu formulieren, was mir durch den Kopf ging. Ich wollte nichts mehr filtern. Ich musste raus aus mir.
Im Leben oder im Kino?
Schygulla
Im Leben! Leben und Spiel sind ja nicht so weit voneinander entfernt, wie man denkt.
Mit Romy Schneider wollte Fassbinder auch drehen, aber das hat nicht geklappt.
Schygulla
Deshalb kam er wieder auf mich zurück. Er wollte Romy Schneider für „Die Ehe der Maria Braun“. Ich habe keine Ahnung, warum sie nicht zusammen kamen.
Vielleicht passten zwei Schwierige nicht so gut zusammen? Wie schwierig waren denn Sie?
Schygulla
Gar nicht, ich befolgte alles, was er wollte, so lange er mich gut behandelte. Es war dennoch oft schwer mitanzusehen, wie er mit anderen sein Katz-und-Maus-Spiel trieb. Katzen necken ihre Opfer bekanntlich lange und hingebungsvoll, obwohl sie genau wissen, dass sie diese am Ende auffressen werden. Und oft sieht es so aus, als könnte die Maus das tödliche Spiel sogar noch genießen.
Das fasst die Methode Fassbinder sehr sarkastisch zusammen.
Schygulla
Es war schon Sadomasochismus; davon hat jeder Mensch ein gewisses Maß in sich. Aber manche ticken nur so.
Man würde doch meinen, dass Fassbinders sadomasochistische Spielchen jeden Produktionsprozess stark verlangsamen müssten. Dabei produzierte er viermal so schnell wie die Fleißigsten in seiner Kollegenschaft.
Schygulla
Fassbinder ließ einfach keinen Zweifel beim Drehen zu.
Er war derart überzeugt von seinen Visionen?
Schygulla
Er hat seine Zweifel eher nur ausgeblendet. Ich habe davon gelernt, mir eine Direktheit angewöhnt, mit der ich oft auch ins Fettnäpfchen trat. Inzwischen beherrsche ich das viel besser, habe mir diese Geradlinigkeit bewahrt. Sie hat mich gerettet. Wer weiß, vielleicht würde ich ihm heute auch nicht mehr gefallen als Schauspielerin. Aber das glaube ich gar nicht, denn er ging in der Regel schon mit dem, was ihm angeboten wurde, um und mit.
Er war in der Arbeit offen für Ratschläge?
Schygulla
Ja! Ich hatte mir vorgenommen, meine Standpunkte in der Kommunikation mit ihm endlich klar zu formulieren. „Raus mit der Sprache“ war mein Motto. Und das zahlte sich aus, denn er war schon bisweilen empfänglich für andere Perspektiven als seine eigene. Als wir das Projekt „Maria Braun“ angingen, reisten wir zusammen nach Paris, um Yves Montand dafür zu gewinnen. Ich sprach gut Französisch, war schon als Au-pair in Frankreich gewesen. Ich konnte Montand also erklären, was wir vorhatten, es musste alles schnell gehen. Fassbinder unterhielt sich inzwischen radebrechend, aber sehr gut mit Montands Frau, Simone Signoret. Da hatten sich zwei gefunden. Er hätte sie sicher für eine Rolle angefragt, wenn er länger gelebt hätte.
„Die Ehe der Maria Braun“ wurde 1979 auch ohne Montand zu einem Welterfolg.
Schygulla
Mit seiner Nabokov-Satire „Despair“ wurde Fassbinder 1978 nach Cannes eingeladen, auf diesen Film setzte er alles. Dort zeigte man abseits des offiziellen Programms bereits eine Rohfassung von „Maria Braun“, neun Monate vor dessen Weltpremiere. Und es war schnell klar: „Maria Braun“ wurde als der wesentlich stärkere Film gesehen, das Echo war massiv. Mit „Despair“ ging er leer aus. Mein Schauspielerkollege Harry Baer hatte mich angesprochen, der Rainer sei in Cannes, ob wir nicht einfach hinfahren wollten? Wir überraschten ihn beim Filmempfang mit unserer Anwesenheit, er freute sich unheimlich, dass wir da waren. Und irgendwann legte er mir den Arm um die Schulter und sagte, er wolle mit mir gemeinsam einen Film machen. Ich sollte nicht nur Schauspielerin sein, sondern auch seine Regie-Komplizin: Wir wollten uns ein Haus mieten, wo wir den Film jeden Tag ein Stück weiter schreiben und erfinden sollten. Die Buchvorlage dazu kam von der deutschen Spätsurrealistin Unica Zürn. Sie lebte in Paris, litt unter Schizophrenie; Fassbinder interessierte sich damals sehr für Geisteskrankheiten. Und er hatte einen enormen Riecher bewiesen, das war noch lange vor dem Fall der Mauer. Denn bei Unica Zürn geht es um einen schizophrenen Schub, in dem sie sich schwanger wähnt mit einem wiedervereinigten Berlin. Dies hatte sie tatsächlich erlebt: Sie war durch die Stadt gegeistert, hinterließ überall Zettel, warf sie auf die Straße, bezahlte nirgendwo. Irgendwann wurde sie festgenommen. Dieses Delirium, um das schon „Despair“ kreiste, wollte Fassbinder weiter erforschen. Aber dazu kam es nie. Denn 1980 gestaltete er seine große Serie „Berlin Alexanderplatz“, dessen Epilog er mit vielen Ideen versah, zu denen er über Zürns Buch inspiriert worden war. Nach der Genet-Adaption „Querelle“ 1982 war es vorbei; dann war er aufgebraucht.
Fassbinders Endphase erlebten Sie nicht mehr?
Schygulla
Nein. „Maria Braun“ war ein Türöffner, auch für mich. ich machte damals die Promotion in Amerika, weil ich Englisch sprach. Der Produzent Luggi Waldleitner trat 1980 an mich heran, um mir das Filmprojekt „Lili Marleen“ anzubieten, in dem ich eine an die Sängerin Lale Andersen erinnernde Figur spielen sollte. Waldleitner hatte bereits einen Regisseur, ich aber sagte, ich würde den Film nur mit Fassbinder machen, mit niemand anderem. So kam es, dass Fassbinder erstmals in seinem Leben eine Auftragsproduktion annahm.
Hat sich der Freundeskreis um Fassbinder nicht Sorgen gemacht wegen dessen sich verschlechterndem Gesundheitszustand?
Schygulla
Ich wusste das gar nicht. Er hatte ja noch in wahnwitzigem Tempo „Berlin Alexanderplatz“ gedreht. Und dann versetzte er mir noch während des Drehs daran ganz nebenbei einen Dolchstoß, sehr hämisch. Ich dachte, meine Arbeit mit Fassbinder gehe ewig so weiter. Das war ihm wohl zu viel, Auf der US-Promotiontour, an der er gar nicht teilgenommen hatte, weil er dauernd mit dem Filmemachen beschäftigt war, gab ich bekannt, dass Fassbinder und ich gemeinsam „Lola“ drehen würden. Das hatte er vermutlich gelesen, also sagte er unvermittelt, am Gelände der Bavaria, zu mir, dass er „Lola“ übrigens mit Barbara Sukowa besetzt habe. Einfach so, wie in einer Drehtür. Dort sah ich ihn zum letzten Mal. Danach ging ich richtiggehend fremd, drehte mit Jean-Luc Godard und Carlos Saura. Er hinterließ mir später noch eine Nachricht im Hotel, ich drehte gerade in Mexiko, sollte ihn anrufen. Mir war das zu vage. Ich dachte, wenn es wichtig wäre, würde er sich schon wieder melden. Hat er aber nicht. Dann ist er gestorben. Er wurde über neuen Drehbüchern gefunden, mit Jane Fonda hatte er die Geschichte Rosa Luxemburgs drehen wollen, das zerschlug sich auch, dann dachte er offenbar wieder an mich. Mir hat es nie etwas ausgemacht, bei ihm Ersatz zu sein. So hatte ja alles angefangen: Ich war 1967 schon Ersatz in einer Bühnenarbeit am Münchner Action-Theater, das war ein Sprung ins kalte Wasser. Ich musste nicht proben. Denn auf einem Zettel an meiner Haustür stand: „Willst du Antigone spielen? Premiere ist in zwei Tagen.“ Ich ersetzte eine Schauspielerin, die einen Notfall hatte.
Ein bisschen Text lernen in 48 Stunden?
Schygulla
Damals war ich noch so jung, da ging das schnell rein. Ich war sowohl Chor als auch eine von vier Antigonen. Peer Raben, Fassbinders späterer Komponist, hat inszeniert.
Sie haben offenbar Lust darauf, zumindest einmal im Jahr in Filmen aufzutreten. Sie könnten inzwischen auch Ihre Ruhe haben wollen.
Schygulla
Wenn man nur seine Ruhe will, ist es ja aus. Das Drehen hält unheimlich in Schwung. Ich habe noch zu viel Lust am Leben. Ich könnte aber, wenn ich beispielsweise permanent auf den Rollstuhl angewiesen wäre, ganz gut auch freiwillig abtreten.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.