Im Niemandsdorf

Im Niemandsdorf: Peter Handke und Velika Hoca

Reportage. Peter Handke spendiert einem Dorf im Kosovo eine Pizzeria. Warum nur?

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Die Kinder rufen ihn Batman. Mit durchgedrücktem Rücken, das Gesicht von einem mit Silberfäden durchzogenen Bart gerahmt, steht Pater Marco vor dem Tor des Weinguts, dem größten des Dorfs, gleich im Zentrum mit der Holzbank und dem Lindenbaum. Pater Marco leitet die Weinkellerei. Er hat seine Daumen zu Haken geformt und in den Gürtel geklemmt. Wie eine Statue seiner selbst steht er da. Mit jedem, der vorbeikommt, treibt er Scherze.

Es ist Weinfest in Velika Hoča, der wichtigste Tag des Jahres. Zwei Reisebusse aus Belgrad parken neben dem zum Lokal umfunktionierten gelben Container mit kleinem Gastgarten. Pensionisten sitzen gegen Mittag auf Holzstühlen, trinken Wein und Kaffee. Händeschütteln, Wangenküsse, Schulterklopfen. Wiedersehen mit Verwandten. Händler verkaufen Kartoffeln und Kinderspielzeug, Branntwein und Schnaps in Literflaschen. In der Früh hatte der eigens angereiste serbisch-orthodoxe Bischof unter blauem Himmel eine Messe zelebriert. Viele Dörfler waren gekommen. Drei KFOR-Soldaten aus Österreich standen etwas abseits der Messbesucher. Sie wirkten mit ihren Sonnenbrillen und dunkelgrünen Uniformen wie Piloten, die wissen, wohin die Reise geht. Bei jedem Bus mit unbekannter Seitenaufschrift, der die Dorfstraße entlangfuhr und einen neuen Schub Besucher in das Dorf brachte, bekommen die drei lange Hälse, schreiben Vermerke in ein rotes Notizbuch. Kontaktpflege und Dauerbeobachtung, so lauten die Aufgaben der Militärs. Aus Belgrad sind auch Jugendliche in Tracht angereist, die einen Tanz auf dem Rasen des klösterlichen Weinguts vorführen. Die Mädchen wedeln mit weißen Tüchern, die Burschen stampfen im Takt. Dünner Applaus. Schnelles Sich-Verlaufen.
Kennt hier jemand Peter Handke? Weiß man von dem geplanten Schwimmbecken? Der Pizzeria, die er finanzieren will?

Pater Marco interessiert sich nicht besonders dafür. Mit weit ausholendem Gang läuft der Mönch unwillig die Dorfstraße entlang und bleibt nach wenigen Schritten vor einem von grünen Textilbahnen eingefassten und schief eingeschlagenen Holzpflöcken gerahmten Rasenstück stehen. Er deutet auf das Wiesengrün neben dem dreistöckigen Rohbau. Es ist ein Moment, der eine ganze Geschichte erzählt.

„Die Kuckucke von Velika Hoča“
Vor gut einem Monat erklärte Handke in einem Interview, er wolle die Prämiensumme des Ibsen-Preises, der mit 300.000 Euro die am höchsten dotierte aller Theaterauszeichnungen ist, der serbischen Enklave Velika Hoča spenden, zur Errichtung eines Schwimmbads und einer Pizzeria. Bereits Ostern 2008 hatte der Schriftsteller das Dorf im Kosovo besucht. Schon damals hatte er Preisgeld im Gepäck. Eine „Nachschrift“ nannte Handke seinen Bericht „Die Kuckucke von Velika Hoča“, der 2009 erschien. „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ heißt Handkes umfänglichster Roman. In „Die Kuckucke von Velika Hoča“ erzählt er von seinen Tagen im Niemandsdorf.

Von einer Pizzeria weiß Pater Marco nichts zu erzählen, und auch das Schwimmband am Ortsrand scheint ihm egal zu sein. Achselzucken und ausweichendes Lächeln, es gibt Wichtigeres. Marco hat keine Zeit. Es ist ein Mal nur im Jahr Weinfest. Wenn der Wind die schwarze Kutte des Mönchs nicht ständig bauschte, könnte man meinen, die Tracht sei auf seinen Körper gebügelt. Batman wäre der Letzte, den man nerven wollte. In Velika Hoča kennt man den Namen Peter Handkes. Viele wissen aber nicht, was Handke und Velika Hoča miteinander verbindet. Ein Held der serbischen Sache ist der Dichter hier nicht.

Gedehnte Wälder und hügelige Weinberge, dazwischen sanfte Erhebungen. Schroffe Bergketten füllen die Landschaft bis an den Horizont. Ein wolkenloser Himmel, es hat an die 30 Grad. Mitte Oktober ist es Spätsommer in Velika Hoča, im Süden des Kosovo, eine gute Stunde Autofahrt von der Hauptstadt Pristina entfernt. Ein Hinweisschild in Albanisch weist den Weg in das Dorf. Eine Straße mit Schlaglöchern und Teerflicken in vielen Grautönen verbindet Velika Hoča mit dem Umland, bei der Ortseinfahrt die verwaiste Fabrik mit Pförtnerhaus, an dem der Doppeladler weht. Albaniens Banner.

Eine Hauptstraße mit wenigen Nebenstraßen, viele wellige Spazierwege. Fünf Lebensmittelgeschäfte mit schütter gefüllten Regalen, zwei Wirtshäuser, zwei Bars, ein Erste-Hilfe-Haus, ein Kindergarten, eine Schule, ein Friseur mit Postern aus Herrenmagazinen an den Wänden, ein Volleyballplatz ohne Netz mit schmutziggrauen Betonstufen zum Sitzen, eine Jugendfußballmannschaft. Velika Hoča ist ein Dorf wie hundert andere auch.

Raki mit Holzkreuz in der Flasche
Auf dem Mahnmal mit der serbischen Flagge bei der Ortseinfahrt von Velika Hoča ist aber eine lange Reihe von Namen eingraviert. 13 Bewohner wurden zwischen 1998 und 2000 von albanischen Extremisten ermordet. Es gebe hier keinen Bäcker und kein Hotel, sagt ein Alter auf der Holzbank beim Hauptplatz. „Kein Nichts“. An die 500 Menschen sollen hier leben, verlässliche Daten sind nicht verfügbar. Es gibt wenig Arbeit und viel Zeit, große Sprünge macht hier niemand. Neben dem Tor von Pater Marcos Weinlager steht eine Überblickstafel. 1198 wurde die Ansiedlung erstmals urkundlich erwähnt. 13 Kirchen sind auf das von der Sonne gebleichte Tableau gezeichnet, die älteste datiert ins 13. Jahrhundert; acht Kirchen sind halbwegs renoviert, von vier finden sich Überreste, eine Kirche ist zwar belegt, aber nie gefunden worden. Kosovo-Metohija wird die Gegend auch genannt. Kosovo-Kirchenland. Eine Metallplatte mit abblätternder Schrift ist an einem Mast mit Drahtgewirr obenauf angebracht: „Hier können Sie Raki mit Holzkreuz in der Flasche kaufen.“ Es ist lange her, dass Touristen die Siedlung am Rand Europas besuchten. Der albanische Name Velika Hočas ist aus der Ortstafel geschabt. Die Kratzspuren wirken wie ein linkischer Versuch des Aufbegehrens.

Es ist einfach, in Peter Handke den Serbenfreund zu sehen. Es ist zu einfach. Man erliegt leicht dem Sog des Stereotypen, den Tücken der Simplifikation. Handke mag in Interviews und Prozessberichten für die serbische Sache eintreten, seine Anwesenheit bei der Beerdigung von Slobodan Milošević gab 2006 ein bizarres Bild ab. Handkes öffentliche Einlassungen zum ehemaligen Vielvölkerstaat, insbesondere seine Haltung zur Rolle Serbiens in den Balkankriegen sorgen in den Feuilletons seit Jahren für nahezu einhellige Ablehnung. Der Dichter sieht in Serbien vor allem eine Art Arkadien, einen Kultur- und Landschaftsraum von sirenenhafter Faszination. Kritiker werfen Handke allerdings vor, er verharmlose gerade so die serbischen Kriegsverbrechen. Die Serbien-Schriften des Autors sprechen da eine andere, differenzierte Sprache. Seit 1996, als Handke seinen heftig attackierten Reisebericht „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ pub-lizierte, mischte sich in die ohnehin vorhandene Aversion gegen einen „schwierigen“ Schriftsteller ein politisches Ressentiment. In Velika Hoča sind die verhängnisvollen Langzeitfolgen der jüngeren Balkankriege wie unter einer Lupe dargestellt.

Das Dorf ist auf den Trümmern einer gescheiterten Politik erbaut. Den „Elends-trichter Europas“ nennt Handke die Region. In „Die Kuckucke von Velika Hoča“ geht er der Frage nach: „Hat sich etwas geändert für die Serben von Velika Hoča, seit sie, dem Anschein nach nun endgültig, unter dem albanischen Doppeladler leben?“

Velika Hoča markiert so etwas wie den historischen Erschöpfungszustand eines Landstrichs, auf dem Albaner und Serben einander seit Jahrhunderten massakrieren. Fünf Kriege fegten in den letzten 100 Jahren über das Land, zwei Balkankriege, zwei Weltkriege und die NATO-Bombardierung, der Kern der heutigen Konflikte. 1989 wurde die Autonomie des Kosovo im damaligen Jugoslawien abgeschafft. Es folgten die Tage des Kriegsrechts, der Verwüstung ganzer Städte, des Kidnappings. Der Massendemonstrationen, der Massenverhaftungen, der Massenvertreibungen, der Massenmorde, auf beiden Seiten, auf albanischer wie serbischer, es war eine Welt voller Feinde. Ab Ende März 1999 führte die NATO Krieg gegen Serbien, der erste Angriff des Militärbündnisses auf einen souveränen Staat seit 1945, das hässliche Wort von den „Kollateralschäden“ machte die Runde. Im Kosovo wurden die im Land verbliebenen Serben in Enklaven gedrängt. Die UNO verabschiedete im Juni 1999 Resolution 1244. KFOR-Truppen rückten darauf in den Kosovo ein, bis heute sind auch österreichische Bundesheer-Kontingente in Südosteuropa stationiert. Im Februar 2008 wurde der Kosovo zur eigenständigen Republik. Die albanische Bevölkerungsmehrheit nennt das Land Kosova. Die serbische Minderheit lebt nach wie vor im Kosovo – in Geisterdörfern wie Velika Hoča und Städten wie Mitrovica und Gračanica südlich von Pristina. Das Kloster in Zociste ist wenige Kilometer von Velika Hoča entfernt. Einst lebten in dem gleichnamigen Dorf serbische Familien. Noch immer wird am 1999 zerstörten Klosterkomplex gebaut. Rollen von NATO-Draht und das weiße Wachhaus erinnern an die KFOR-Präsenz. Belgrad und Europa sind von Velika Hoča aus gesehen in endlose Weite gerückt.

„Früher waren Serben und Albaner wie Brüder“
Die Dorfchronik erzählt eine Geschichte ideologischer Gräben, die sich tief in die Windungen der Vergangenheit ziehen: ein Drama von Schuld und Sühne, Schock und Schmerz. Die älteren Dörfler erinnern sich an die Stellen, an denen die mit Uran angereicherten NATO-Bomben abgeworfen wurden. Sie weisen darauf hin, dass es in Pristina ein Hotel namens „Aviano“ gebe. Von der norditalienischen Militärbasis gleichen Namens seien damals die Kampfflieger gestartet.

Jeder hier kennt auch Geschichten von Entführungen, Morden, Vergewaltigungen, Vertreibungen. Man muss die Verantwortlichen dafür nicht nennen. Sie wohnen außerhalb der Enklave, jeder glaubt, darüber Bescheid zu wissen. Velika Hoča ist auch ein Schlachtfeld im Krieg der Meinungen. Eine Stätte einst lautstarker, nun stiller Propaganda.

Milenko, den Popen von Velika Hoča, muss man sich als bodenständigen Haudegen mit zerfurchter Gesichtslandschaft und Kinnbart vorstellen, der etwas vom alten Jean Gabin hat. Er spricht bedächtig, beherrscht das ganze Repertoire ausschweifender Gestik. „Gut“, sagt er mit rundem Mund, die Sache mit Handke sei wunderbar, Handkes Anteilnahme komme dem Dorf zugute. Milenko ist ein Praktiker, der auf Gott vertraut. Er blieb, als marodierende Banden einfielen, er ist im Dorf eine Respektsperson. Er sagt, er kenne etliche Bücher des Autors – und redet dann doch lieber von Gottes grenzenloser Liebe und dessen unergründlichen Plänen mit dem Leben und Sterben der Menschen. Es ist ein paar Jahre her, da antwortete der Geistliche auf die Frage eines Politikers, wie viele Serben denn in Velika Hoča lebten, mit der Bemerkung, es seien zumindest Millionen. Dem Minister verschlug es die Sprache. Pfarrer Milenko hatte die Toten der vergangenen Jahrhunderte dazugezählt.

Nach dem Weinfest wird Velika Hoča wieder in provinziellem Stillstand versinken. Die Tage werden nahezu unbemerkt ineinander übergehen. Es beginnt das Sonntagsnachmittagsleben, das sich auf die restliche Zeit des Jahres erstreckt. Man besucht Verwandte und trifft sich zum Kaffee. Man verplaudert sich über den Gartenzaun hinweg und meidet unnötige Fahrten in die Umgebung des Dorfs. Die Jungen pendeln in die Arbeit, die Alten verbringen die Nachmittage im Freien. Die Tag-für-Tag-Tristesse geht ihren Gang. Man bleibt unter sich, wie unter einem Glassturz von der Außenwelt abgeschnitten. Es wäre Kitsch, hier kleines Glück im großen Unglück zu entdecken. Die Häuser wirken wie weit voneinander gebaute Trutzburgen, als wollten einander die Bewohner dort, wo jeder jeden kennt, auf keinen Fall zu nahe sein. Der Alltag beruht auf fragilem Gleichgewicht.

Fünf Autominuten von Velika Hoča entfernt liegt eine weitere serbische Enklave. Upper-Orahovac in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Stadt Rahovec ist im Grunde eine Straße, an deren abschüssigem Ende in perspektivischer Verlängerung die Spitze eines Minaretts in der Sonne glänzt. Unsichtbare Grenzen auch hier, ein Stadtteil wie abgetrennt. Bauschuttruinen ragen entlang der Ulica Boračka wie kariöse Zähne in den Himmel. Viele Häuser sind unbewohnt, schwarze Fensterhöhlen und Schuttberge in den Innenhöfen. Aus abgedeckten Baracken wachsen Bäume und Sträucher. Das Schild mit EU-Symbol und dem Hinweis auf Wiederaufbauhilfe wirkt wie ein schlechter Witz. Die Boračka verbleicht regelrecht, gerade so wie ein Gemälde, das seine Farben verliert.

Miodrag wohnt seit Ewigkeiten in der Straße auf Höhe der Nummer 173. Neun Jahre lang lebte er als Arbeiter einer Molkerei in Vorarlberg, wann genau das war, weiß er selber nicht mehr. Vorarlberger Dialekt spricht er bis heute. „Grüaß Gott“, sagt Miodrag. Er ist 62 und im Ruhestand. Graue Socken, blaue Trainingshose, die Frisur sitzt. In drei Jahren werden zusätzlich 70 Euro monatliche Pension aus Österreich bei ihm eintreffen. Die Sicht auf die Maßstäbe seiner Welt scheint so verrutscht wie die Brille mit nur einem Bügel, die schief auf der Nase sitzt. „Früher waren Serben und Albaner wie Brüder“, sagt er. Aus einer 1,5-Liter-Plastikflasche füllt er sechs Jahre alten Slibowitz in Gläser. Von Peter Handke hat er noch nie gehört. Er sitzt auf einem Kinderplastikschemel und schenkt Schnaps nach. „Früher feierte man gemeinsam Hochzeiten. Heute geht man sich aus dem Weg.“ Seit Jahren sei nun die schlechte Zeit angebrochen. „Alles ist ruhig draußen. Die Menschen geistern wie Schauspieler durch die Straßen, die so tun, als wäre nichts.“ Die trostlose Gegenwart verliert sich bald hinter seiner Vergangenheit in Vorarlberg, als die Zukunft voller Versprechen war, damals in Bregenz, mit Kurzzeitfreundin Uschi an der Seite. Über die Abgründe der jüngeren Historie kein Wort. „Österreich war wie ein Traum. Jeden Abend bin ich ins Bett gegangen und habe mich aufs Aufstehen gefreut.“

Die Nachricht, dass in Belgrad das Fußballspiel Serbien gegen Albanien in Tumulte ausgeartet sei, nimmt er reglos zur Kenntnis. Vor dem Spiel hatte er einen albanischen Bekannten gefragt, wer das Match gewinnen werde. Die Mannschaft, die besser sei, da waren sich die Dorfbewohner einig. Die nationalen Konflikte zwischen Serben und Albanern schrumpfen in Miodrags Gasse zum Pragmatismus eines notgedrungenen Miteinanders. Auf der Basis wechselseitigen Misstrauens findet keine wirkliche Annäherung mehr statt.

Marco, der Mönch, den sie Batman nennen, lehnt am Tor zum Weingut. Er deutet auf ein Schild gegenüber. Am Vortag hatte Milenko für die Bischof-Visite endlich die Hinweistafel am Portal der Kirche St. Stefan angebracht. Zuerst wollten die Nägel im Beton nicht halten. Dann brach der Bohrer der Bohrmaschine ab. Mit Hammerschlägen fixierte der Priester die Plastikplatte schließlich über dem Pfarrhoftor. Er montierte das Schild auf die ihm eigene Art. Auf Kyrillisch, Albanisch und Serbisch steht der Name der Kirche aus dem 14. Jahrhundert nun da. Marco sagt, in dunkler Nacht werde er das Albanische wegkratzen. Er rafft die schwarze Mönchskutte und breitet sie wie Flügel aus, als wolle er zeigen, wie er dann über dem Portal schweben werde. „Pst“, zischelt er. Es ist einer seiner schlechteren Scherze.
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Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.