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Imperator Ungehobelt: Ridley Scotts wundersame "Napoleon"-Filmbiografie

Napoleon Bonaparte als Feldherr zwischen Arroganz und Einfalt: Joaquin Phoenix gibt in „Napoleon“ missvergnügt den Titel(anti)helden. Stefan Grissemann hat Ridley Scotts Kriegs-Kinospektakel vorab besichtigt – und sich über den Tonfall der Inszenierung gewundert.

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Wer braucht in Zeiten tobender Kriege, in denen vor unseren Augen Unschuldige zu Abertausenden ausgelöscht werden, eigentlich noch Kriegsfilme in alter Hollywood-Unterhaltungsmanier? Kann man sich bei epischer Schlachtenmalerei und blutigen Feldherrenabenteuern ernsthaft zerstreuen? Oder ist gar etwas zu lernen aus der Rekonstruktion historischer Gemetzel? 
Der britische Filmemacher Ridley Scott, vor allem seiner Arbeit in den späten 1970er- („Alien“) und frühen 1980er-Jahren („Blade Runner“) wegen legendär, wird demnächst seinen 86. Geburtstag feiern. Sein Appetit auf martialisches Entertainment ist ungebrochen. In seinem jüngsten Film zeichnet er – seltsam frivol, wohl wissend um die desaströse Aktualität des von ihm Erzählten – Verblendung, Umsturz und Bodenoffensiven nach, dringt in eine politisch destabilisierte Welt vor, in der Machtgier, Territorialstreit und Barbarei regieren. 
„Napoleon“ heißt Scotts aktuelle Arbeit, die eine Demontage versucht: In bissigem Tonfall hetzt der Regisseur, chronologisch korrekt, in zweieinhalb Stunden durch die Biografie eines von der Geschichte verehrten Heerführers und Kaisers, witzelt über die anhaltende kollektive Faszination mit dem französischen Diktator. (Sogar Stanley Kubrick versuchte 1969 erfolglos, einen mit Jack Nicholson besetzten Napoleonfilm auf die Beine zu stellen.) Joaquin Phoenix stellt Napoleon Bonaparte (1769–1821) hier als eitlen, impertinenten und infantilen Hohlkopf dar, dessen steile Karriere in den Wirren der Französischen Revolution beginnt und im Exil auf St. Helena endet. Mit schläfrigem Gesicht und schrulligem Benehmen tappt dieser Napoleon durch sein Berufs- und Privatleben; Bonapartes Armeen mobilisierendes Charisma, auf das Scott dennoch vertraut, bleibt in dieser Inszenierung leider eine ungedeckte Behauptung.
Napoleons cholerische Ausfälle und Liebesnöte zielen auf komische Zuspitzung und auf assoziative Verbindungen zu Gegenwarts-Soziopathen wie Donald Trump, aber der Charakterdarsteller Phoenix läuft in diesem Film, vorsichtig formuliert, nicht zur jener Größe auf, die man von ihm gewohnt ist. Denn Scott neigt seit geraumer Zeit (siehe „House of Gucci“ oder „The Last Duel“) zu einem Stil, den man vulgären Modernismus nennen mag: Seine ungehobelten Pointen stehen quer zum Ernst der Weltlage (einst und heute), und die französische Staats- und Militärelite parliert in einer kruden Mischung aus Amerikanisch und Britisch. Phoenix erscheint zudem, vor allem in der ersten Hälfte der Erzählung, auch zu alt für diese Rolle. Den jungen korsischen Ehrgeizling nimmt man dem 48-Jährigen nicht ab. Der reale Napoleon langweilte sich mit 46 bereits in der Verbannung, mit 51 war er tot.
Viel Raum widmet Scott der Allianz seines Titelhelden mit dessen geliebter Joséphine (Vanessa Kirby), schlägt daraus Szenen ehelichen Machtgerangels, aber kaum Funken genuiner Emotionalität. Wegen chronischer Kinderlosigkeit musste die Verbindung geschieden werden, man blieb einander aber verbunden. 

Gegen Ende hin schaut noch eine heitere Nebenrolle für den Briten Rupert Everett heraus, der den gegnerischen Duke of Wellington so knorrig anlegt, als hätte man ihn aus einer Monty-Python-Satire kopiert und eingefügt. Scott klappert die Stationen der Laufbahn Napoleons (Austerlitz, Russland-Feldzug, Waterloo) ab, bildet die großen Schlachten unter großzügiger Verwendung digitaler Animation ab und greift, wo es geht, auf günstig erhältliche Klischees zu. Der quer getragene Zweispitz spielt in „Napoleon“ eine Requisitenhauptrolle. Nur die ikonische Pose des Imperators, den Uniform-Eingriff auf Brusthöhe, spart Scott überraschenderweise aus – und übrigens auch die Gelegenheit, zum Abspann noch den (hier nicht mehr wirklich unpassenden) Abba-Welthit „Waterloo“ zuzuspielen. Die Historie genügt sich selbst, und wo sie nicht passt, wird sie passend gemacht – oder wie die schwedische Band 1974 so unnachahmlich proklamierte: „The history book on the shelf / Is always repeating itself.“

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.