Flaneure: Hanno Millesi und Hermann Nitsch, 1990er-Jahre

Kichern und kreischen: Hanno Millesi erinnert sich an Hermann Nitsch

Der Wiener Schriftsteller Hanno Millesi war von 1994 bis 1999 persönlicher Assistent des Aktionskünstlers Hermann Nitsch. Für profil erinnert sich Millesi an einen Menschen, der ihm sehr viel bedeutet hat.

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Hanno Millesi, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als Künstler und Schriftsteller in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter „Der Nachzügler“ (2009), „Im Museum der Augenblicke“ (2007), „Der Schmetterlingstrieb“ (2016), „Die vier Weltteile“ (2018). Zuletzt erschien der Roman „Der Charme der langen Wege“ (2021) in der Wiener Edition Atelier.

Im Laufe des Nachmittags sieht der Aktionsablauf vor, dass sich eine Handvoll Spielteilnehmer in die Ruine eines Häuschens zurückzieht; es dürfte früher einmal hier beschäftigten Gärtnern zur Verfügung gestanden haben. Die Aktion dauert bereits ein paar Stunden. Im Stil einer Prozession schlängelt sie sich durch die weitläufige Anlage der Wein- und Ölgärten von San Martino, einer Anhöhe mitten in Neapel.

Akteure und Akteurinnen schleppen Holztröge mit Traubenmaische, die sie, ekstatisch trampelnd, an einer der vorangegangenen Stationen fabriziert haben. Weitere Tröge sind mit Tomatenmark gefüllt – Polpa, der Region geschuldet, aber auch, weil sich Tierblut aufgrund der hohen Außentemperaturen über einen längeren Zeitraum nicht verwenden lässt. 

Inmitten des Gemäuers beginnen die Akteure, wie in der Partitur vorgesehen, einander mit dem Inhalt der Tröge zu bewerfen. Rasch steigert sich die ausgelassene Stimmung, verfällt in die spielerische Dynamik einer Schneeball- oder Polsterschlacht. Unter den Anwesenden herrscht Verbundenheit. Gemeinsames Proben hat eine Gruppe aus ihnen geformt. 
Mittlerweile sind weitere Akteure und Akteurinnen hinzugekommen. Sie haben einen Eimer mit Gedärmen mitgebracht. Eine Lunge, Leber, ein Stück Magen, Gekröse. Etwas Ekliges mischt sich in das Spiel. Auf einmal ist man vor allem darauf bedacht, Geschoßen auszuweichen. Nach und nach greifen spielerischer Übermut und das Bemühen, sich schadlos zu halten, ineinander. Die liebevolle Botschaft einer Handvoll Trauben und das gezielte Werfen der Milz eines toten Tieres. Ein Batzen Tomatenmark wie blutiger Schnee, von der Sonne aufgeheizt, eisenhaltig. Gefahr droht vom unterschwelligen Geruch allmählichen Vergammelns infolge Sterbens. Das anfänglich beständige Kichern wird immer öfter von Kreischen unterbrochen. 

Inzwischen haben sich Musiker rund um die Bruchbude versammelt. Sie halten Trompeten, Posaunen und Hörner durch die Fensteröffnungen ins Innere und blasen, was das Zeug hält. Alle einen einzigen Ton, egal welchen, jeweils so lange wie möglich, immer wieder, so laut sie können. Lärmende Atemzüge, Brandung dröhnender Schallwellen. Die Stimmung im Inneren, irgendwo zwischen totaler Ausgelassenheit und zunehmender Bedrohung, wird um ein alarmierendes Element erweitert. Die stets von Neuem hereindringenden Töne, im Grunde nur ein einziger, hängen geblieben in seinem Echo, machen deutlich, dass es sich nicht um eine Warnung vor etwas handelt, sondern um einen Istzustand höchsten Grades. 

Von außen kann eigentlich kaum jemand gesehen haben, was im Inneren vor sich ging – nicht einmal die Musiker. Die hielten ihre Augen vor Anstrengung geschlossen. 

„Früchte, Gedärme, Lachen, Wein, Blut, ohrenbetäubende Musik – ein trotz allem behütetes Chaos.“
 

Hanno Millesi

Der (An-)Blick ist nur eine der zahlreichen Facetten einer Aktion von Hermann Nitsch. Obwohl das Orgien-Mysterien-Theater, fest in der bildenden Kunst verankert, alles Visuelle bevorzugt behandelt, ist und bleibt die ideale Form seiner Rezeption die Spielteilnahme. 

Die hier ausschnittweise geschilderte 96. Aktion, durchgeführt Mitte der 1990er-Jahre, war eine der wenigen, in der ich mich, zumindest vorübergehend, im Zentrum des Spielgeschehens wiederfand. Üblicherweise war meine Rolle während der Jahre, die ich für Nitsch tätig war, soweit es Aktionen betraf, die eines Regieassistenten, Requisiteurs, Koordinators. Außerdem war ich für das gezielte Verabreichen von Blut zuständig. Direkt am Körper hantierten nur einige wenige mit Blut, weil es dabei eine Menge zu berücksichtigen galt. Aktionen fanden in jenen Jahren allerdings nicht allzu viele statt, da alles auf die Vorbereitung des Sechstagespiels von 1998 hinauslief.

Mein Aufgabengebiet konzentrierte sich auf das Betreuen von Ausstellungen. Erweitert um gelegentliches Assistieren beim Malen, die redaktionelle Mitarbeit an Buchpublikationen und Musikträgern, das Erstellen eines Fotoarchivs, das Beantworten von Anfragen der Presse, von Museen, Ausstellungshäusern, wissenschaftlichen Institutionen. Hinzu kamen unterschiedliche Projekte, zu denen Nitsch in dieser Periode eingeladen wurde. Von diesen ist das Konzipieren des Bühnenbildes und der Ausstattung für die Jules-Massenet-Oper „Hérodiade“ 1995 an der Wiener Staatsoper hervorzuheben. Nicht gerade Nitschs Lieblingskomponist – welche Genugtuung, dass er sich spät in seinem Leben an Richard Wagner versuchen durfte. 

Da ich meine Zeit sonst nicht damit verbringe, in Erinnerungen an diese Jahre zu schwelgen, kann es eigentlich nur purer Zufall gewesen sein, dass ich, als mich die Nachricht vom Tod Hermann Nitschs erreichte, gerade eine Anekdote über meine allererste Tätigkeit für sein Orgien-Mysterien-Theater niedergeschrieben hatte. Es geht darin um das Musizieren mit einer Ratsche im sogenannten „Lärmorchester“. 

Von einem Moment zum nächsten sahen sich die Tränen, die mir eben noch vor unterdrücktem Lachen in die Augen gestiegen waren, von Bitterkeit getrübt. Was ein humorvoller Rückblick auf einen Abschnitt meiner Vergangenheit hätte werden sollen, verwandelte sich mit einem Mal in einen Nachruf, in die Verabschiedung eines Menschen, der mir viel bedeutet hat. Diese erfolgt auch im Namen anderer, vieler, die Hermann Nitsch gekannt und wie ich das Privileg genossen haben, Zeit mit ihm verbringen zu dürfen. 

Ich muss nicht lange nachdenken, um zu veranschaulichen, was mich an Nitschs Einstellung dem Leben gegenüber so faszinierte. Die kunsthistorische Dimension soll dabei gar nicht außen vor bleiben. Im Zusammensein mit Nitsch ist sie mir nämlich in menschlichem Format begegnet, in einer Menschlichkeit, deren Spektrum an Gefühlen sogar eine alberne Geschichte wie jene mit der Ratsche miteinschließt – ein Instrument als Geheimagent des Alltagslärms, als Provokateur der Volkstümlichkeit inmitten eines gediegenen Orchesters, verstärkt durch zwei Chöre. Auf das Einsatzzeichen des Dirigenten beinahe wie zum Hohn mit verbissenem Gesichtsausdruck in der geballten, rotierenden Faust geschwungen, gewissenhaft derselben Partitur folgend wie Streicher und Bläser. Und selbst für meine Mutter – sonst keine erklärte Liebhaberin avantgardistischer Kunst – gab es da etwas zum Staunen, hatte sie am Telefon zuvor doch verstanden, mein Instrument wäre die Bratsche. 
Die Bandbreite ausgelassener Ernsthaftigkeit, heiterer, wütender Kreativität, aufrichtigen Akzeptierens jeder Widrigkeit und schließlich versöhnlicher Traurigkeit, wie sie mein Andenken an Nitsch gerade bestimmt. 

Nachdem es Hermann Nitsch Ende vergangenen Jahres gesundheitlich schlecht gegangen war, erleichterte es mich zu hören, dass er sich dazu entschlossen hatte, Ende Juli 2022 eine auf zwei Tage komprimierte Version seines Sechstagespiels in Prinzendorf zu realisieren. Umso trauriger stimmt es mich, dass nun sämtliche Aufführungen des O.-M.-Theaters ohne dessen Gründer auskommen werden müssen. Stattfinden werden sie jedoch, was – abgesehen von einigen Getreuen – nicht zuletzt einem von Nitsch über Jahrzehnte ausgearbeiteten, bisher weitgehend unterschätzten Partituren-System zu verdanken ist. 
Um einen Text, der eigentlich ewig weitergeschrieben werden müsste, zu beenden, kehre ich zurück an dessen Beginn. In die italienische Häuserruine, umgeben von exzessiver Ausgelassenheit, Alarm, Früchten, Gedärmen, hysterischem Lachen, Wein, Blut, ohrenbetäubender Musik.  

In meinem bisherigen Leben hatte ich das Glück, in keine kriegerischen Situationen verwickelt zu werden. Einige kamen zuweilen recht nahe an mich heran. Gerade jetzt ist es wieder einmal so weit. Wenn ich die Bilder der Auswirkungen des kriegerischen Geschehens in der Ukraine und anderswo auf zivile Einrichtungen sehe – zerbombte Häuser, entzweigerissen, einen obszönen Blick auf menschliches Leben in seiner Normalität freigebend, Betten, Toiletten, Kleiderschränke, Kücheninventar, muss ich unweigerlich an jene Momente in einem trotz allem behüteten Chaos denken. 

Heute sind meine Gedanken bei dem 1938 in Wien geborenen Künstler, dessen sechstes und siebtes Lebensjahr sich ebenfalls vor einer täglich wachsenden Kulisse zerbombter Häuserruinen abgespielt haben.