Kreisky-Frontmann Franz Adrian Wenzl als Protagonist von "Viel gut essen"

Musiktheater von Sibylle Berg und der Band Kreisky

Kritik. Mit dem Musik-/Theaterabend „Viel gut essen“ lassen Autorin Sibylle Berg und die Wiener Band Kreisky den politischen Zeitgeist aus der Flasche. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

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Über die Bühne zieht sich eine Diagonale aus Neon. Sie leuchtet in verschiedenen Farben, zum Beispiel Rot, Blau, Türkis, verläuft von links unten nach rechts oben und darf ruhig als Metapher verstanden werden: als Bild für den Abhang, den der Protagonist von „Viel gut essen“ hinunterschlittert; den slippery slope, der vom Biospießertum zum Menschenhass führt. Und nein, dieser Weg ist nicht weit. Es reichen knapp eineinhalb Stunden. Das Spiel dauert 90 Minuten und am Ende gewinnt die Angst.

In ihrem schon vor drei Jahren in Köln uraufgeführten Stück entwirft Sibylle Berg eine leider typische Mittelstandstragödie: Mann, mittleres Alter, mittlere Karriere, wenig Gefühl, fühlt sich missverstanden, benachteiligt und gestört. Ein durchschnittlicher Durchschnittsbürger wie du und ich, geprägt von Mutter- und Heimatliebe, Biogemüsechauvinismus, Ruhehabenwollen, Arbeitsmarktzweifel, Viertelverfallsangst und Beziehungsversagen, steigert sich hinein. In Selbstmitleid und Fremdenhass. Vermeintliche Denkverbote brechend, dabei aber auch nur alte Ressentiments (gegen Feminismus, Ausländer, Politiker) aufwärmend, kocht der namenlose Protagonist bald vor Wut. Aus gewöhnlichem Egoismus erwächst das pegidaistische „Wir sind das Volk“.

Musiktheater im allerbesten Sinn

Das Wunder an diesem Stück: Es bezieht politisch Stellung, aber macht es sich dort nicht gemütlich. Berg spürt dem Menschen im Hassposter nach, dem Fundament seiner Diskursruine. Franz Adrian Wenzl, Sänger der Rockband Kreisky, verkörpert ihn gnadenlos, mit großer Wucht und allen Fehlern. „Viel gut essen“ lässt sich auch als Rockkonzert begreifen, Wenzls Monolog als ausführliche Fußnote zu den Kreiskysongs, die ihn immer wieder unterbrechen, antreiben, anheizen. Das ist Musiktheater im allerbesten Sinn. Und eine kluge, zeitgemäße, aufwühlende und ja, auch wahnsinnig witzige Studie in Entfremdung.

Die Frage dabei ist nicht: Erkenne ich mich hier wieder? Sondern: Wie lange tue ich das? Nach 90 Minuten ist Schluss. Am Ende der schiefen Ebene: ein Abgrund. Tosender Applaus.

VIEL GUT ESSEN Theater im Rabenhof nächste Termine: 20., 21. Oktober; 11. November; 2., 19., 20. Dezember www.rabenhof.at

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.