"Spex" In der Wüste des Pop-Textens: Der Fotokünstler Wolfgang Tillmans gestaltete das finale Cover des deutschen Diskursmagazins.

Die Krise des Musikjournalismus

Mit dem Untergang großer Popmagazine wie "NME" und "Spex" steht der Musikjournalismus am Abgrund. Ist das Schreiben über Pop bedeutungslos geworden?

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Der rosafarbene Hintergrund mag Wunschdenken sein, auf dem sich in schwarzen Lettern die Ankündigung "Next chapter: Internet" materialisiert. Ab 1. Februar 2019 wird das legendäre deutsche Musikmagazin "Spex", mehr als 38 Jahre nach seiner Gründung, nur noch online erscheinen. Auch das Editorial der vor wenigen Tagen ausgelieferten allerletzten Nummer 384, der Januar/Februar-Ausgabe 2019, übt sich in Zweckoptimismus - es ist mit "Das Ende ist nicht das Ende" überschrieben.

Immerhin ist "Spex" die Mutation vom einstigen Debattenführer in ein Gratismagazin erspart geblieben - fast überraschend, denn nahezu alle Konkurrenzprodukte waren längst kostenlos zu beziehen. Aber auch das schützte vor dem Untergang nicht: Das Techno-und Club-Kompendium "Groove", das bereits im vergangenen Oktober abdankte, kam auf eine nur halb so lange Lebenszeit wie "Spex". Auch hier soll es online weitergehen, auf Abo-Basis und dennoch gespickt mit Advertorials. Das Popkulturmagazin "Intro" hatte im Sommer seinen Betrieb eingestellt, mit 27 Jahren Lebensdauer im besten Rockstar-Todesalter. Pop-Printprodukte in Österreich sind rar: Das Gratisblatt "The Gap", gegründet 1997, existiert (gerade) noch, die Underground-Fibel "skug" stellte ihre Printausgabe Ende 2015 - nach einem Vierteljahrhundert - ein, gibt sich aber online weiterhin die Ehre.

Natürlich sind für den Pop-Kahlschlag der vergangenen Monate nicht nur der Schwund an Klientel, sondern vor allem die mangelnde Inseratenlage und die steigenden Vertriebspreise verantwortlich. Das Desinteresse der Anzeigenkunden am Printsektor ist ein deutliches Zeichen jener kulturellen Verengung, auf die der digitale Kapitalismus zielt: Große Unternehmen investieren lieber in Online-Giganten wie Facebook und Google als in speziellere Medien, die möglicherweise viel besser zu ihren Produkten passen würden - und beschleunigen damit den Verlust einer vielgestaltigen Zeitungslandschaft, trocknen Subkulturen aus.

"Beherzter Sprung ins Ungewisse"

Noch sind Resthoffnungen intakt. Es gehe darum, "zum beherzten Sprung ins Ungewisse anzusetzen und zu formulieren, wie relevanter, unabhängiger Journalismus in Zeiten des Glasfaserkabels aussehen kann", räsoniert die verbliebene "Spex"-Redaktion in verblüffend offenherziger Diktion - "weil dieser spezielle Masochismus, den es wohl schon immer für engagierten Pop-Journalismus brauchte, zu tief in uns verwurzelt ist". Man wolle weiterhin "die abseitigen, marginalisierten, diskriminierten und aufrührerischen Positionen in Pop und Gesellschaft" fördern, denn es sei unumgänglich, "sich mit Herz und Hirn gegen die Vereinfachungen der neuen Rechten zu stellen". Zwischen zwei und drei Euro im Monat sollen die Digital-Abonnements von "Spex" und "Groove" künftig kosten; ob sich die nötigen Unterstützer finden werden, die bereit sind, für Online-Content zu bezahlen, bleibt abzuwarten.

Das Mutterland des Pop wurde von der Krise schon ein wenig früher erwischt: Eine britische Institution der Musikkritik, der seit 1952 wöchentlich erscheinende "New Musical Express" ("NME"), gab vor zehn Monaten auf. Die populäre Website nme.com besteht weiterhin - kostenfrei. Die Wochenzeitung "Sounds" wurde bereits 1991 eingestellt, 21 Jahre nach ihrer Gründung. "Melody Maker", das nach eigenen Angaben älteste Musikperiodikum der Welt, hatte 2000 mit dem "NME" fusioniert. Die britische Pop-Wochenpresse hatte in den 1970er-Jahren eine Gesamtauflage von weit über einer halben Million und beträchtliche Reichweiten. Die Zeitungen waren so profitabel (und in Musikbelangen selbstgewiss), dass die Medienkonglomerate, in deren Besitz sie standen, tunlichst davon absahen, sich in redaktionelle Belange einzumischen.

In den USA entfachten Blätter wie "Rolling Stone" (seit 1967) oder "Creem" (bis 1988) in den 1970er-und 1980er-Jahren die Musikleidenschaft ihres Kundenkreises, bei allerdings verlangsamtem Rhythmus von zweiwöchigem ("Rolling Stone") und monatlichem Erscheinen ("Creem"). Der britische Popautor Simon Reynolds schildert die wöchentliche Dosis Musikjournalismus, die ihm in seinen Teenagerjahren verabreicht wurde, in leuchtenden Farben: "Weil diese Zeitschriften 51 Mal im Jahr erschienen, nicht wie in Amerika bloß zwölf oder 26 Mal, gab einem die englische Musikpresse das Gefühl, es gebe eine Rock-Realität, die parallel zur offiziellen Welt mit ihren Aktualitäten und ihrer Mainstream-Unterhaltung existierte. Die Bedeutung und Dringlichkeit, die diese Magazine vermittelten, zog einen völlig in ihren Bann."

Der Bann brach wenig später, in den 1990er-Jahren. Es sei an der Zeit, "sich eine ganz andere Sorte von Publikation auszudenken", orakelt Poptheoretiker Diedrich Diederichsen nun in "Spex" zum Abschied noch: eine Zeitschrift, "bei der Popmusik auch eine Rolle spielt, aber nicht die entscheidende".

Relevanzverlust von populärer Musik

In Wahrheit seien es nicht nur finanzielle Probleme, die den alten Musikjournalismus zur Strecke gebracht hätten, meinen die meisten Kommentatoren der aktuellen Krise; tatsächlich stecke der umfassende Relevanzverlust von populärer Musik hinter dem Massensterben der großen Popmagazine. Das Überangebot durch Spotify, YouTube et al. habe Pop zu einer Alltagsware gemacht, der kein Wert mehr beigemessen werde. Wer jedoch genauer hinsieht, muss diese Diagnose anzweifeln. Die Konsumgewohnheiten, der tägliche Umgang mit Pop haben sich radikal verändert, nicht jedoch die Identifikationsangebote, die bestimmte Musiken, Genres und Sounds heranwachsenden Musikenthusiasten machen. In jedem Schulhof dringt Trap und HipHop aus Smartphones und Bluetooth-Lautsprechern, in jedem U-Bahn-Waggon hängen Jugendliche an ihren Kopfhörern wie an einer lebensstiftenden Infusion.

So sehr sie ihre Musik brauchen, so wenig Lust haben sie aber darauf, sie sich von alten Besserwissern erklären und bewerten zu lassen, die ihre Autorität und ihr Monopol verloren haben. War das Vertrauen in bestimmte Autorenpersönlichkeiten in der vordigitalen Ära noch unumgänglich, kann mittlerweile jeder Teenager der eigenen Netzrecherche vertrauen. Der Musikdiskurs, wenn man ihn noch so nennen mag, findet heute praktisch vollständig online statt, in Videoblogs und Podcasts, in Netzforen oder leicht überblickbaren, täglich aktualisierten Rankings einflussreicher Pop-Websites wie "Pitchfork", die inzwischen mehr als sieben Millionen sogenannte Unique Visitors im Monat erreicht. Dem kursorischen Besucher wird dort der schnelle Einstieg ins vermeintliche Pantheon der "Best New Music", "Best New Reissues" oder "Best New Albums" geboten. Man muss kein Kulturpessimist sein, um feststellen zu können, dass der grundlegende Verlust an Konzentration auf ein Thema, das mehr als ein paar Sekunden an Lektürezeit benötigt, dessen theoretische Durchdringung kategorisch eliminiert.

Keine Nische, die nicht augenblicklich auszuleuchten wäre; alles ist sofort erreich- und erwerbbar, wird begleitet von atemlosen Nachrichtenzyklen, hochbeschleunigendem Meinungsüberdruck und Bewertungsredundanz. Die totale Verfügbarkeit von Produkten, Kommentaren und Informationen hat zu einer Debattenmüdigkeit geführt, gegen die seriöse Popmagazine nicht mehr antreten können. Den medial Ausgelaugten und Abgestumpften bleibt nur der Rückzug - in die Musik selbst.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.