Kultur

Protokoll eines gelungenen Lebens: „Perfect Days“, Wim Wenders’ beglückender jüngster Film

Stefan Grissemann legt eine hochmusikalische Kino-Reise nach Tokio nahe: Regie-Altmeister Wim Wenders begibt sich in den Stadtteil Shibuya, um dort Tagesroutinen, Taktgefühl und Toilettendesign zu feiern.

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Man wird im Filmangebot dieser Tage kein beseelteres Werk als „Perfect Days" finden. Kühne These, mag sein. Aber die Schlichtheit und Ruhe dieser Erzählung, die um einen alleinlebenden älteren Arbeiter kreist, sind kaum vergleichbar mit all den atemlosen kulturellen Aktualitäten, die uns mehrheitlich bedrängen. Die Betonung der scheinbar geringen Dinge, die ein Leben ausmachen, ist hier entscheidend: Wim Wenders, mit 78 auf der Höhe seiner Kunst (siehe auch sein 3D-Künstlerporträt "Anselm"), errichtet in „Perfect Days“ der Selbstgenügsamkeit und dem Zauber des „Gewöhnlichen“, das sich bei genauerer Inspektion in etwas ganz Einzigartiges verwandelt, ein Denkmal.  
Der schweigsame Hirayama, benannt übrigens nach dem demütigen Helden in dem von Wenders verehrten japanischen Kinoklassiker „Die Reise nach Tokio“ (1953, Regie: Yasujiro Ozu), ist Toilettenreiniger. Täglich fährt er aus dem Tokioter Vorort, in dem er lebt, mit dem Auto nach Shibuya, um dort öffentliche Bedürfnisanstalten zu putzen. Er geht seiner Arbeit mit Präzision und Hingabe nach, weil er dabei nicht bloß auf die Beseitigung von Schmutz konzentriert ist, sondern auch auf die Schön- und Eigenheiten der Welt um ihn herum: auf die liebenswerten Sonderlinge, denen er täglich begegnet, auf seinen nervigen jungen Kollegen, auf die Kinder, die ihn – im Gegensatz zu ihren Eltern – wahrnehmen, auf seine stille Herzlichkeit reagieren. „Perfect Days“ ist das Porträt eines bescheidenen Mannes, der wie unsichtbar durch die Welt geht – und gerade darin eine ungeahnte Art der Freiheit entdeckt.

 Der charismatische Charakterdarsteller Kōji Yakusho trägt diesen Film praktisch im Alleingang: Seine Sanftheit überträgt sich; die Energie, die er ausstrahlt, ist vorbehaltlos positiv. Mit der Einsamkeit, in der er lebt, hat Hirayama sich arrangiert, seine Tagesroutinen (Pflanzenpflege, Baumfotografie, Afterwork-Drink) bedeuten ihm so viel wie die Literatur William Faulkners und Patricia Highsmiths, deren Werke er in Antiquariaten billig ersteht und spätabends verschlingt, bis ihm die Augen zufallen. Seine täglichen Autofahrten bespielt er mit seiner Retro-Kassettenkollektion, mit der Musik Lou Reeds, Patti Smiths und Otis Reddings. Das andere Leben, das er einst geführt und hinter sich gelassen hat, zeichnet sich ab, als eines Nachts seine Nichte vor der Tür steht.
„Perfect Days“ ist nebenbei auch das Porträt hochklassigen Designs im öffentlichen Raum: Die Toilettenanlagen, die man in den vergangenen Jahren in Shibuya errichtet hat, sind bunte Wunderwerke postmoderner Gestaltung, inklusive transparenter Schutzwände, die erst bei Verriegelung undurchschaubar werden. Die Betreiber des „Tokyo Toilet Project“ hatten Wenders gebeten, eine Serie dokumentarischer Kurzfilme über diese Bauten zu drehen, doch der Regisseur hatte anderes im Sinn: Er konzipierte auf Basis dieser Vorgabe lieber einen Spielfilm, eine streng humanistische, spirituelle Erzählung, die uns nun, ab übermorgen im Kino, vorliegt. 
Am Ende, im frühen Licht eines neuen Tages, dringt Nina Simones unverwechselbare Stimme aus Hirayamas Autoradio, kündet vom Zauber der Morgendämmerung und von einem gelungenen, unscheinbaren Leben: „It's a new dawn / It’s a new day / It's a new life for me / And I'm feeling good.“ Das Glück und die Tränen, die Melancholie und die Seligkeit sind in dieser herzergreifenden Szene, die einen der allergrößten Momente des Gegenwartskinos festhält, nicht mehr voneinander zu trennen. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.