Nahost-Konflikt

Regisseurin Ruth Beckermann über Israel: „Das ist kein Krieg, sondern ein Pogrom“

Die Wiener Filmemacherin und Autorin Ruth Beckermann über den Terror im Nahen Osten, über Islamismus, rechtsextremen Zionismus und eine tief gespaltene Gesellschaft.

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In ihren Werken setzt die Kosmopolitin Ruth Beckermann sich mit jüdischer Identität, mit Erinnerung und Ideologie, aber auch mit der Ambivalenz des Heimatbegriffs auseinander. In Wien, Tel Aviv und New York hat sie studiert, seit 1977 macht sie Filme. Und die Künstlerin scheint mit jedem Film stärker zu werden. Die drei Regiearbeiten, der sie seit 2016 vorgelegt hat – die Bachmann-Celan-Fantasie „Die Geträumten“, die zeitgeschichtliche Doku-Satire „Waldheims Walzer“ und die Sexualitätsstudie „Mutzenbacher“ –, sind (vielfach preisgekrönte) Höhepunkte ihres Schaffens. Die politische Weltlage beobachtet die 1952 Geborene mit wachsender Sorge und schwindender Hoffnung. Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel, wo Teile ihrer Familie sowie viele Freundinnen und Freunde leben, versucht Ruth Beckermann nachzuvollziehen, wie diese kaum fassbare Eskalation eintreten konnte.

Wie informieren Sie sich über die laufenden Ereignisse?
Ruth Beckermann
Ich kann mir die Bilder der Massaker aus Israel nicht anschauen, das geht über meine Kraft; ich lese stattdessen Zeitungen, verfolge die Live-Ticker von „Guardian“ und „Haaretz“. Das ist kein Krieg, sondern ein Pogrom. Und die Überlebenden werden vermutlich nie wieder in ihre Dörfer zurückkehren wollen. 
Welche politischen und moralischen Folgen wird der Terror haben?
Ruth Beckermann
Trauer und noch einmal Trauer. Israel hat etwa so viele Einwohner wie Österreich. Jeder kennt jemanden, der getötet wurde. Und das Vertrauen in den Staat ist vollkommen erschüttert. Das Sicherheitskonzept ist kollabiert. Davor hatte man an das Militär und das Sicherheitssystem bedingungslos geglaubt. 
Die israelische Grenzanlage zu Gaza soll eine Milliarde Euro gekostet haben. Und dann fährt die Hamas mit Bulldozern einfach durch?
Ruth Beckermann
Die Kameras an diesem Grenzzaun blickten angeblich alle in Richtung Gaza; als die Hamas durch war, konnte sie also niemand mehr sehen. Zum Großteil waren diese Kameras ohnehin schon außer Kraft gesetzt. Die Terroristen hatten das Kommunikationssystem zerstört, die Frauen an den Monitoren in Erez und in den Kibbuzim konnten nichts mehr sehen. Die Israelis hatten sichtlich geglaubt, Geld und Technologie könnten menschliche Intelligenz und Wachsamkeit ersetzen. Nun hat man gesehen, dass das nicht der Fall ist. 
Was braucht Israel, um solche Anschläge zu verhindern, am dringendsten?
Ruth Beckermann
Einen funktionierenden Geheimdienst. Tragischerweise hat dieser total versagt. Die Hamas bereitete diese Aktion vermutlich länger als ein Jahr lang vor, mit zahllosen Waffen, Raketen, Paragleitern und Motorrädern, und Israel bekam davon nichts mit! Das ist ebenso erschütternd wie unglaublich. Das größere Bild zeigt, dass das Israel der Gegenwart nicht mehr jenes Land ist, das wir noch im Kopf haben: eine solidarische, sicherheitsbewusste Gesellschaft, die über ein Heer und einen Geheimdienst verfügt, die als die besten der Welt galten. 
Wieso hat sich Israel so angreifbar gemacht?
Ruth Beckermann
Eine Besatzung verändert beide Seiten vollkommen. Viele junge Israelis müssen ihren Militärdienst wie Polizisten verbringen, indem sie Checkpoints und Siedler bewachen und gegen Kinder mit Steinen kämpfen müssen. Das ist zermürbend, und es demotiviert. Und dann wurden die religiösen Faschisten immer mehr. Damit meine ich ausdrücklich nicht alle religiösen Israelis, manche wollen einfach nur beten und lernen. Aber die Rechtsextremen, die nun in der Regierung sind – die Gruppe um Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich –, stammen aus der antidemokratischen und extrem-zionistischen Gewaltbewegung Meir Kahanes. Sie wollen die Demokratie ausschalten, eine Theokratie errichten und die West Bank – „das biblische Land“ – besitzen, möglichst ohne Palästinenser. Der rechtsextreme, fundamentalistische Zionismus ähnelt leider dem Irrsinn der Islamisten. Das sind Apokalyptiker, Fanatiker. Sie wollen die biblischen Orte erobern, den Tempelberg für sich haben. 
Ihnen steht aber auch eine säkulare Gesellschaft gegenüber, die solche Ziele nicht unterstützt.
Ruth Beckermann
Natürlich. Aber an diesem Grauen trägt einer die Hauptschuld: Benjamin Netanyahu. Es ist ihm zuzutrauen, dass er auch diese tiefe Vertrauenskrise noch politisch überleben wird. 
Als Krisenstaatschef? 
Ruth Beckermann
Ich kann es nicht glauben und hoffe für Israel, dass Netanyahu abdanken muss. Die Wut und die Bitterkeit der Menschen sind enorm nach diesem Staatsversagen, das zahllose Menschenleben gefordert hat. Das kann er eigentlich nicht überleben. 
Er wird damit rechnen, dass die Wut auf die Hamas noch deutlich größer ist als der Zorn des Volkes auf ihn.
Ruth Beckermann
Das wird sein Kalkül sein. Natürlich gibt es im Augenblick keine Proteste gegen Netanyahu, aber das ist nur aufgeschoben. Erst wird es ein schreckliches Massaker auf der anderen Seite geben, das hat ja schon begonnen. 
Welcher größere Plan steckt hinter dem Bestreben, die palästinensische Zivilbevölkerung aus Gaza zu vertreiben?
Ruth Beckermann
Wohin sollten sie denn? Ägypten läßt sie ja nicht hinein. Sie sind gefangen. Es geht nicht um Vertreibung, sondern um einen Schlag gegen die Hamas. Leider wird das an der verfahrenen Lage absolut nichts ändern. Früher oder später kommt der nächste Kampf.
Weiß man, wie hoch die Zustimmung der Menschen in Gaza für die Hamas ist?
Ruth Beckermann
Laut einer Studie der Adenauer-Stiftung stimmen etwa 50 Prozent dort der Politik der Hamas zu. 
Seit Samstag ist es schwierig geworden, legitime Kritik an Israels ultrarechter Regierung zu äußern.  
Ruth Beckermann
Ich identifiziere mich sehr mit Israel, und wenn ich nach diesen Terrorschlägen mit meinen Verwandten und Freunden dort spreche, bestätigen alle diesen Befund: Man ist entsetzt über diese Regierung und ihre Vernachlässigung der nötigen Verteidigungsmaßnahmen.
Sie halten Kontakt mit Israel? 
Ruth Beckermann
Natürlich. Ich telefoniere fast täglich mit meinen Cousinen, deren Kindern und Enkeln in Tel Aviv, Jerusalem und anderen Orten, habe viele Freundinnen, Freunde und Bekannte dort. Sie sind bislang, soweit ich das überblicken kann, in Sicherheit. In fast allen israelischen Häusern gibt es Bunker, Keller und safe rooms, spezielle Räume mit dicken Betonmauern, in denen man auch Raketenangriffe überleben kann.
Es ist wichtig, jetzt geeint gegen die Hamas vorzugehen. Aber das politische Denken kann sich darin nicht erschöpfen.
Ruth Beckermann
Stimmt. Zunächst muss man die Hamas entmachten. Und es muss getrauert werden. Aber diese tiefe Identitätskrise in der israelischen Gesellschaft war ja vor dem Terror schon da, und nun hat man gesehen, wie grauenhaft die Folgen der politischen Unzulänglichkeit sind. Die intelligentesten Köpfe, die früher im Sicherheitsapparat gesessen sind, sind heute, den Gesetzen des Neoliberalismus folgend, in der IT-Branche tätig. Wer hat sie ersetzt? Ein großes Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühl hat sich bei den Menschen eingestellt.
Wie berichtet Ihre Familie in Israel von der aktuellen sozialen Spaltung?
Ruth Beckermann
Eine meiner Verwandten arbeitet mit autistischen Menschen in einem Heim. Eine Kollegin dort, eine Palästinenserin aus Jerusalem, mit der sie seit Jahren arbeitet, postete noch am Samstag in den sozialen Medien ihren Kommentar zum Terror: „Well done“, schrieb sie.  
Arbeitet sie weiterhin in diesem Heim?
Ruth Beckermann
Nein, sie hat ihren Job sofort verloren. Leider ist sie nicht die einzige, die so reagiert hat. Wir wissen nicht, was die Mehrheit der zwei Millionen Palästinenser, die in Israel leben, vom Terror halten. Noch ist es ruhig im Landesinneren, auch in der West Bank übrigens. Die Ahnungslosigkeit des Militärs rührte auch daher, dass es sich völlig auf die West Bank konzentriert hat; nur der Schutz der Siedler und die Erweiterung der Siedlungen waren den rechten Ministern ein Anliegen. Nach dem Pogrom der Siedler in Huwara im Februar 2023 waren alle Augen des Militärs und des Geheimdiensts auf den Westen gerichtet. In Gaza, dachten offenbar alle, sei eh nichts los. Die religiösen Zionisten leben nicht in Gaza, dort leben eher Grüne, Biobauer und Tierzüchter, junge, alternative Leute. Im Süden ist das Leben günstiger, freier. Das Rave-Konzert in der Wüste zeigt ja auch, dass dort keine fundamentalistische Kultur herrschte.  
Folgen die Massenmorde der Terroristen irgendeiner Logik außer der des blanken Hasses? Was können diese Massaker politisch erreichen?
Ruth Beckermann
Das ist eine Todeslogik, wie ihr auch der Islamische Staat anhängt. Die Anschläge wollen darauf hinweisen, dass auch die Arabische Welt Palästina vergessen zu haben scheint, neue Abkommen mit Israel waren schon am Weg. Offensichtlich wollte die Hamas zeigen, dass sie noch existiert. Seit 70 Jahren verschließen alle die Augen vor diesem Problem. In Europa meint man, mit Geld, mit Flüchtlings- und Entwicklungshilfe sei im Nahen Osten alles zu lösen. 
Die USA verhalten sich doch auch so.
Ruth Beckermann
Natürlich. Die UNO, die EU, alle. Es gibt aber keine Lösung für dieses Problem. Auch an die Zweistaatenlösung, die man lange hoffnungsfroh verfolgte, glaubt inzwischen keiner mehr. Heute ist alles nur noch Problemmanagement. Netanyahu hat die Nöte nur verschärft. Ihm geht es nur um seine Macht, nicht um Einheit der Bevölkerung oder Ausgleich zwischen den Extremen, im Gegenteil: Es geht ihm einzig und allein um das Schüren von Gegensätzen, um das machiavellistische „Teile und herrsche“.  
Der BDS-Bewegung wird seit langem Antisemitismus unterstellt. War es nicht auch legitim, mit Boykott und Sanktionen auf Israels Regierung zu reagieren?
Ruth Beckermann
Sanktionen haben noch nie etwas bewirkt – außer ein moralisches Wohlgefühl bei denen, die sie verhängen. BDS trifft die ohnehin meist stark regierungskritischen Akademiker und Künstler, die ausgeladen werden, nur weil sie aus Israel kommen! Ich finde andererseits aber auch das BDS-Verbot der deutschen Bundesregierung daneben.
Die Romantisierung des palästinensischen Widerstandskampfs gegen Israel scheint selbst angesichts des blutigen Terrors nicht zu versiegen. In vielen Großstädten demonstriert man immer noch für die palästinensische Sache, als hätte der eben stattgefundene Massenmord nichts wirklich verändert.
Ruth Beckermann
In diesem Moment sind solche Demonstrationen absolut falsch, unverständlich und eigentlich nur grauenhaft. Denn die nun Demonstrierenden solidarisieren sich mit Schlächtern und Mördern. 
Kann in Israel nun überhaupt noch die Rede von der Unzumutbarkeit seiner Regierung sein?
Ruth Beckermann
Wie ich von meinen Verwandten und Freunden höre: ja. Denn abgesehen von der Trauer, vom Entsetzen und von der Wut auf die Hamas redet man in Israel dauernd darüber. Wie konnte uns das passieren?
Droht ein geopolitischer Flächenbrand? Eine Ausweitung der Kämpfe?
Ruth Beckermann
Enorme Gefahr geht vom Iran aus. Die Amerikaner haben ein Zeichen gesetzt, indem sie Flugzeugträger und Kriegsschiffe zur militärischen Unterstützung Israels entsandten. 
Wird die USA militärisch intervenieren?
Ruth Beckermann
Vorläufig ist es wohl eher nur ein Warnsignal. Es ist auch unklar, worauf die geplante israelische Bodenoffensive in Gaza genau zielt. Wohin sollte man die Bevölkerung denn vertreiben? Man kann das Land dort wieder annektieren, das man 2005 in die Unabhängigkeit entließ, aber was hätte Israel davon? Und wie wird die Hisbollah, die islamistische Terrormiliz im Libanon, reagieren? Ich glaube, die amerikanischen Kriegsschiffe wurden vor allem als Warnung gegen die vom Iran so massiv unterstützten libanesischen Gotteskrieger postiert, die über viel stärkere Raketen verfügen als die Hamas.
Wladimir Putin quittiert den Krieg im Nahen Osten mit vernehmlichem Schweigen. 
Ruth Beckermann
Hinter den Kulissen wird aber wohl viel telefoniert und debattiert werden. 
Überall auf der Welt muss man nun auch Synagogen und andere jüdische Einrichtungen schützen. 
Ruth Beckermann
Ja. In London wurde bereits ein koscheres Restaurant von Antisemiten vandalisiert. Und so mancher Wiener lässt wieder einmal den „Saujuden“ raus, wenn er einen Mann mit Kippa sieht.
Die UNO warnt vor einer weiteren Verschlechterung der humanitären Laga in Gaza. 
Ruth Beckermann
Es ist ein Teufelskreis. Israel hat Gaza die Elektrizität und das Wasser abgeschaltet. 
Natürlich muss Israel auf einen Anschlag dieser Massivität reagieren. Die Frage ist nur: mit welchen langfristigen Zielen?
Ruth Beckermann
Darum geht es im Moment nicht. Aktuell geht es nur darum, möglichst viele Hamas-Leute und ihre Einrichtungen zu zerstören. 
Die Hamas wurde offenbar katastrophal unterschätzt.
Ruth Beckermann
Ja. Es ist gefährlich, den Feind nicht ernst zu nehmen, auf ihn herabzuschauen. Arroganz ist folgenschwer. Aber wenn man, wie Israel, über eine derart hochgerüstete, teure Armee verfügt, wird man leider leicht arrogant. Man darf sich eben niemals sicher fühlen.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.