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Schall und Rausch: Wie die Popmusik von der Zukunft träumt

Der britische Autor Simon Reynolds analysiert in seinem neuen Buch die „Futuromania“ der Popgeschichte – ein Crash-Kurs in Sachen elektronischer Klangkunst.

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Wie klingt die Zukunft? Obwohl (oder besser: weil) dies niemand wissen kann, hat die Popmusik in den vergangenen 70 Jahren zu dieser Frage eine ganze Menge an Vorschlägen eingereicht. Sie flirrt und blubbert, wenn es nach Louis und Bebe Barron geht, die ihren selbst gebauten Oszillatoren 1956 den ersten vollständig elektronischen Film-Soundtrack abgetrotzt haben (für den Science-Fiction-Klassiker „Forbidden Planet“). In Giorgio Moroders und Donna Summers Disco-Attraktion „I Feel Love“ (1977), die den Sound der Clubs über Jahre prägen sollte, hämmert die Zukunft mechanistisch vor sich hin – geboren aus den launischen Schaltkreisen eines Moog-Synthesizers. Anderswo klickt, dröhnt und klappert sie polyrhythmisch-nervös, etwa in den Produktionen, die der Studiovirtuose Timbaland für die HipHop-Diva Missy Elliott eingerichtet hat.

„Als Autor war ich besessen von der Zukunft, benutzte auch ihre Rhetorik“, sagt der aus London stammende, nach langer Zwischenstation in Manhattan mittlerweile in Los Angeles lebende Pop-Kritiker Simon Reynolds im profil-Gespräch. „Futuromania“ heißt Reynolds’ jüngste Publikation; der Titel ist eine Anspielung auf sein berühmtestes Buch, „Retromania“ (2011), die kritische Studie einer in der Endlosschleife verfangenen Pop-Maschine, die nicht mehr auf Neuerfindungen setzt, sondern nur noch auf permanentes Recycling etablierter Stile und Sounds. „Retromania“ hat die internationale Musikkritik nachhaltig beeinflusst, den Blick auf das Wesen der Popkultur verändert.

Menschmaschinen und Afrofuturisten

Nun legt Reynolds eine Art Gegenthese vor, die sich bei genauerer Betrachtung aber als perfekte Ergänzung erweist: Denn auch „Futuromania“, ein wilder Ritt durch die Geschichte der elektronischen Popmusik, befasst sich mit dem Zusammenspiel von Tradition und Innovation, mit den retrofuturistischen Menschmaschinenhymnen der Düsseldorfer Synth-Experimentalisten Kraftwerk, mit dem kosmisch-mythologischen, auf Free Jazz basierenden Afrofuturismus des Musikers Sun Ra. Und mit dem Fall des französischen Duos Daft Punk, das auf seinem letzten Album („Random Access Memories“, 2013) die Zukunft über den Umweg der Popgeschichte ins Auge fasste und ein Amalgam aus House, Disco-Funk und Soft Rock mit Vintage-Maschinen und über Vocoder verfremdeten Gesangsstimmen erzeugte: eine Musik, die in einer großen, sehr inklusiven Geste nostalgisch und progressistisch argumentiert.

Auch „Futuromania“ ist historisch und gegenwärtig zugleich: In dem Band sind Texte versammelt, die Reynolds zwischen 1987 und 2021 veröffentlicht hat; die Erstausgabe hat der italienische Verlag minimum fax herausgebracht, in deutscher Übersetzung liegt das Buch nun über den findigen Ventil Verlag vor. Die englischsprachige Version wird erst nächstes Jahr erscheinen.

Die Frage, ob eine Popmusik mit futuristischer Agenda tatsächlich prophetische Kraft besitzen kann, ist offen. In der KI- und Computerwelt, von der die Band Kraftwerk schon in den mittleren 1970er-Jahren fantasiert hat, leben wir heute tatsächlich, im Neonlicht der elektrischen Cafés, irgendwo in „Europa endlos“. Aber die totalitäre Zukunftsvision, die etwa das Duo DAF 1981/82 mit minimalistischer Rhythmik und sadomasochistischer Verve in die Welt setzte – Reynolds betrachtet DAF als „geradezu unheimlichen“ Vorläufer des Stils Acid House –, hat sich ebenso wenig konkretisiert wie die düsteren Cold-Wave-Dystopien des frühen Synthpop.

Die Gruppe The Human League, die 1978 aus dem Bandprojekt The Future entstanden ist (deren Name wiederum aus einem Science-Fiction-Brettspiel abgeleitet worden war), befasste sich mit Größenwahn („Empire State Human“), mit Yuri Gagarins Weltallreisen („The Dignity of Labor“) und mit dem Schwarzen Loch der Popmusikindustrie („The Black Hit of Space“). Man arbeitete mit synthetischen Übersteuerungen, gab die Band später zu Protokoll, um ihre Klänge zukunftsfähig zu machen, um eine Musik zu erfinden, wie sie Menschen in zehn oder 20 Jahren hören würden.

Elektrische Freunde

Die Vorstellung, in die Zukunft zu blicken, kommende Welten beschreiben zu können, aktivierte die Fantasie. Der junge Brite Gary Numan etwa war Ende der 1970er-Jahre ein Star der futuristischen Musik. Er schrieb Songs wie „Are ‚Friends‘ Electric?“, sie klangen wie Science-Fiction-Romane, spielten in entfremdeten Welten, in einer sinistren Zukunft, in der staatliche Tyrannei und lückenlose Überwachung herrschten. Auch Phil Oakey, Sänger der Human League, hatte die Bücher von Philip K. Dick und J. G. Ballard internalisiert. Spätere Drum’n’Bass-, Techno- und Dubstep-Künstler ließen sich dagegen eher von der Kino-Science-Fiction inspirieren: Für viele von ihnen seien Filme wie „Blade Runner“, „Alien“, oder „Terminator“ praktisch Shakespeare, meint Reynolds ironisch.

Elektronische Musik, die sich nicht vor allem inhaltlich, sondern entschieden klangtechnisch einer imaginierten Zukunft widmet, ist dennoch rar: Die Kompositionen des britischen Duos Autechre klingen avanciert, auch spröde, gehen weit über den üblichen Rahmen des Popmusikalischen hinaus. Das Unternehmen Autechre arbeitet mit einer Methode namens Granularsynthese, dringt damit tief in die Essenz seines akustischen Materials ein.

Aber in der Regel verfährt Pop eben sehr viel konkreter: Die Diskurse der Gegenwart, insbesondere die Debatten zu Identitätspolitik und Gender, werden in der Musik ständig aktualisiert. Das Queering der Popmusik, personifiziert in Kunstfiguren wie Arca oder Yves Tumor, ist zu einer Haupttriebkraft der Alternative-Musikindustrie geworden. Die klanglich-textliche Auseinandersetzung mit zugeschriebenen, aber vehement zurückgewiesenen (auch ethnischer) Rollen und geschlechtlicher Fluidität produziert einen ganz eigenen future glam.

So haben die kreativen Kräfte einer zukunftssüchtigen Popmusik stets Gedanken und Lebensstile heraufbeschworen und mobilisiert, die zwar „ihrer Zeit voraus“ zu sein schienen, aber – weitgehend unmerklich – bereits Teil der Gegenwart waren. Futuristisch anmutende Musik setzt letztlich nicht viel mehr als hohe gesellschaftliche Sensitivität voraus: das Wahrnehmungsvermögen für eine vor unseren Ohren mutierende Welt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.