Interview

Steirischer-Herbst-Chefin Ekaterina Degot: „Dämonen existieren doch nur in Gruselmärchen“

Die Intendantin des soeben gestarteten Kunstfestivals Steirischer Herbst erzählt im profil-Interview von heiligem Unernst, moralischen Grauzonen, einer neuen Schelmenroman-Kunst – und über ihr Verhältnis zur einstigen russischen Heimat.

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Eine gewisse Anspannung ist Ekaterina Degot anzumerken. Als Frühaufsteherin ist die seit 2018 regierende Intendantin des Grazer Kunstfestivals Steirischer Herbst um halb neun Uhr früh bereits sehr konzentriert. Sie empfängt die Delegation des profil freundlich, aber unter Zeitdruck. Um 9:45 Uhr soll der Pressetrubel mit erstem Rundgang durch vier Ausstellungen beginnen, davor wollen Interview und Foto-Shooting erledigt werden. In den Gängen des labyrinthisch-düsteren Dachbodens über dem Minoritenzentrum, der heuer erstmals auch als Kunstschauplatz genutzt wird, bewegt sie sich zielstrebig, sie posiert für die Kamera, zwischendurch tauscht sie sich in aller Kürze mit ihrem Team aus, das sich bestens auf einen langen Arbeitstag vorbereitet hat; und im Vorbeigehen erklärt sie all die künstlerischen Interventionen, die Grafiken, Videoproduktionen und Rauminstallationen, die an den Wänden, in den Sälen und Korridoren flimmern, hängen oder stehen.
Donnerstag früh vergangener Woche, es ist der Tag der Festivaleröffnung. Die 56. Ausgabe des Steirischen Herbstes wird um 17 Uhr, wie stets, mit einer Grundsatzrede Degots beginnen. Die Exil-Russin, die 2014 ihre Heimat verließ, wo sie sich als Kuratorin und Kunstjournalistin einen Namen gemacht hatte, ist trotz der drängenden Zeit und der auf sie einprasselnden Informationen aufmerksam, spricht in einer schönen Mischung aus Deutsch und Englisch von den politischen Implikationen und ästhetischen Wagnissen ihres Festivals. Zur avancierten Programmierung bekennt sie sich rückhaltlos. Früher habe man den Steirischen Herbst gern mit dem Label „Avantgarde“ versehen, heute nennt man ihn eben korrekter ein „Festival für zeitgenössische Kunst“. Hinter der Fassade des Ernstes, mit dem die Kunsthistorikerin meist auftritt, blitzt immer wieder ungeahnt Humor auf, und am Ende verleiht sie auch einem verhaltenen Optimismus Ausdruck, der in ihrer Branche eher selten anzutreffen ist.

Der Steirische Herbst 2023 geht mit dem – auf die vielfältigen Krisen der Gegenwart bezogenen – Motto „Humans and Demons“ ins Rennen. Wie kam es zu diesem Duett von Menschlichkeit und Dämonie?
Degot
Der Titel ist leicht polemisch geraten. Mit der Behauptung, dass wir alle Menschen sind, wollte ich partikularistischen und identitären Tendenzen widersprechen, auf der linken wie auf der rechten Seite. Indem ich Dämonen ins Spiel bringe, möchte ich aber auch den allzu ernsten Ton durchbrechen, der in der Kunst vorherrscht. Ein Festival so zu benennen und zu gestalten, als wäre es ein Schelmenroman und keine Doktorarbeit in politischer Theorie, ist auch eine kleine Gegenrede zum Mainstream in der Kunstwelt.
Sie sehen das Teuflische als Basis einer neuen Heiterkeit in der Kunst?
Degot
Dämonen existieren ja bekanntlich nur in Gruselmärchen. Die muss man mit Humor nehmen. Wenn ich den Titel unseres Festivals nun nenne, lachen alle.
Ich nicht. Dämonisches ist leider mehr als genug in der Welt.
Degot
Natürlich. Aber wir haben unser Festival eben nicht „Das Böse“ genannt. Das wäre zu ernsthaft gewesen, auch nicht attraktiv. Einige der von uns eingeladenen Künstlerinnen und Künstler haben sich in ihren Projekten etwa den Exorzismus als Metapher vorgenommen.
In Ihrer Eröffnungsrede zitierten sie den Autor Milan Kundera, der einst das „Engelhafte“ gegen das „Dämonische“ stellte. Gewährleistet erst die Balance aus beidem so etwas wie Freiheit?
Degot
Kundera erkennt im Engelhaften etwas „Naives“, den Versuch, Sinn in der Welt zu sehen, das Dämonische dagegen hält er für nihilistisch: hat eh alles keinen Sinn, lass uns gleich möglichst reich werden! Das ist nicht einfach Gut und Böse. Kundera hegt Skepsis gegen beide Haltungen – vielleicht auch, weil er nach dem Osten den Westen kennengelernt hat. Er ging damit gewissermaßen selbst von der Naivität zum Kapitalismus.

Ihre Themen sind nicht Gut und Böse, sondern die moralischen Grauzonen.
Degot
Gute Kunst interessiert sich für den Raum zwischen dem Guten und dem Bösen. Sie bringt Material zum Denken, liefert keine einfachen Antworten. Dafür gibt es ja schon die Politik.
Primo Levi, den Sie ebenfalls in Ihrer Rede erwähnten, sprach sich dafür aus, weniger zu verurteilen, als vielmehr zu reflektieren.
Degot
Levis Texte waren für uns eine wichtige Inspirationsquelle. Mit dem Holocaust befasst sich etwa Dana Kavelina: Sie hat einen Animationsfilm über die NS-Pogrome in Lemberg 1941 gemacht, erzählt sie als Geschichte der Wiederauferstehung. Kavelina ist ungeheuer begabt und noch sehr jung. Ich bin stolz und berührt, dass diese ukrainische Künstlerin mit mir arbeiten wollte.
Sie ist nicht die einzige, oder?
Degot
Nein, wir haben etwa auch eine Komposition des Akustikkünstlers Anton Kats im Programm. Er stammt aus Cherson und lebt nun in Berlin.
Sie nehmen in Ihrem Festival unseren von Kriegen, KI, Rechtsextremismus, Klima- und Viruskrisen bedrohten Planeten anno 2023 ins Visier, sprechen von einer „sich auflösenden Welt“. Ist die Apokalypse zur Grundbedingung in der Kunstproduktion unserer Tage geworden?  
Degot
Menschsein bedeutet, am Leben zu sein – und zu wissen, dass es nicht ewig währt. Wir spüren gerade alle auf gleiche Weise die prekäre Zerbrechlichkeit unseres Planeten und der Menschheit als Ganzes. Die größten Werke der menschlichen Kultur wurden immer mit einem tiefen Bewusstsein für unsere Sterblichkeit geschrieben, gemeißelt oder gemalt, und ich sehe nicht, warum das heute anders sein sollte. Aber wie immer arbeiten wir in unserem Festival auch mit Humor, den ich für das humanistischste ästhetische Mittel halte. Wir erzählen Geschichten vom Reisen und Überleben wie jene der brasilianischen Malerin Mira Schendel, von Ehrgeiz und Scheitern wie die des Alternativphysikers Stefan Marinov, von Ungehorsam und Reue wie jene des NS-Musikfanatikers, den man „Dr. Jazz“ nannte.
Dietrich Schulz-Köhn war SA- und NSDAP-Mitglied, befasste sich aber leidenschaftlich mit schwarzer Musik und umgab sich mit Jazz liebenden Résistance-Kämpfern: Auch er ist eine Art unbefristeter Hauptmieter in den grauen Zonen zwischen Kunstsinn und Unmenschlichkeit.
Degot
Eine interessante, sehr komplexe Figur zwischen Kompromiss und Teufelspakt. Dass er in Frankreich schwarze Musiker und sogar Mitglieder der Résistance unterstützte, machte ihn nicht weniger zum Nazi; vielleicht hat er damit sein Gewissen beruhigt. Die Liebe zur Kunst ist nicht unschuldig, so wenig wie die Kunst selbst. Nachdem man diese Ausstellung gesehen hat, wird man Jazz nie wieder auf die gleiche Weise hören. Das Archiv des „Dr. Jazz“ liegt in Graz, sein Erbe ist ästhetisch stark, wir zeigen Schallplattencover, Fotos und andere Dokumente. In Radioprogrammen kann man ihn selbst erzählen hören. Dazu stellen wir direkte und indirekte Zusammenhänge her: Erzählungen von Rassismus und Musik.  
Dem aus Bulgarien stammenden Stefan Marinov, der einst versuchte, das Perpetuum Mobile zu erfinden, widmen Sie ebenfalls einen Programmschwerpunkt. Er nahm sich, frustriert von der Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen, in Graz das Leben. Hat dieser Stadtbezug besondere Bedeutung?
Degot
Graz war und ist ein Ort, der Oppositionelle aus dem Osten willkommen heißt. Marinov war ein von der Freiheit besessener Liberaler und ein sehr konservativer Denker, ein Utopist, ein gescheiterter Erfinder, ein einsamer Autor. Er passt, fast wie eine Karikatur, in die ganz besondere kulturelle Atmosphäre der Stadt, in der er Zuflucht fand.
Was kann die Kunst beitragen zu dem verzweifelten Versuch, das Grauen der Welt im Zaum zu halten? Predigt sie nicht stets bloß zu den Konvertierten?
Degot
Diese Gefahr gibt es, aber gute Kunst predigt nicht, sie stellt Fragen, findet Zusammenhänge und macht en passant Witze. Wie ein gutes Philosophiebuch richtet sie sich an Leute vom Fach, ist aber offen für alle, die unser Leben besser verstehen wollen.
Auf welche Programmpunkte sind Sie nun besonders stolz?
Degot
Wie immer zeigen wir sehr viele neue Auftragsarbeiten, die in engem Kontakt mit den Kunstschaffenden konzipiert und realisiert wurden: zum Beispiel Choreografien von Adrienn Hód und Mateja Bučar, eine kleine Oper von Lulu Obermayer, ein satirisches Spiel über Regeln von Michael Portnoy, Videos von Dani Gal und Meg Stuart, eine komplexe Installation von Lucile Desamory und eine Klanginstallation von Anton Kats.
Sie halten mit all dem ein Plädoyer für dissidente Stimmen in der Kunst?
Degot
Ja. Man muss vor allem auch jene Dissidenten hören, die nicht ins Exil gingen, die immer noch in Belarus und Russland, in Afghanistan und im Iran leben. Für sie interessiert sich die Politik kaum. Ich sehe es als meine Mission, diese Leute nicht zu vergessen.  
Sie stellen die alte, in der Spätmoderne ein wenig in Verruf geratene Form des Geschichtenerzählens ins Zentrum dieses Jahrgangs.
Degot
In der Tat wollen wir das erzählerische Element wieder in die Kunst einführen. Ich war immer unzufrieden mit Werken, die man in zwei Sekunden konsumieren kann. Ich bin für „langsame Kunst“. Um ihr Bedeutung zu geben und eine Verbindung zu den Betrachtenden herzustellen, muss man ihr Zeit lassen. Ich betrachte Festivals als eine Kunstform für sich, als neueste, kollektive Spielart der Kunst. profil: Warum haben Sie heuer auf ein Herbst-Herzstück wie die letztjährige große Ausstellung in der Neuen Galerie verzichtet? Geschah dies auch aus Budgetgründen? Degot: Wir hoffen immer, jedes Jahr eine ganz andere Ausgabe machen zu können und nicht in Routine zu verfallen. Deshalb haben wir heuer vier Ausstellungen an vier neuen Orten statt einer – was budgettechnisch übrigens nicht einfacher ist. Aber wir werden unsere Zusammenarbeit mit der Neuen Galerie Graz im nächsten Jahr fortsetzen.
Der Angriffskrieg, den Russland seit bald 600 Tagen gegen die Ukraine führt, hat auch in der Kunst zu Verwerfungen geführt. Käme es für Sie als explizite Gegnerin dieses Krieges in Frage, russische Kunstschaffende einzuladen, die zu Putins Terror schweigen - also weder ein Naheverhältnis zum Regime haben noch Lust, sich politisch zu äußern?
Degot
Ich habe Russland 2014 nach und wegen der Annexion der Krim verlassen. Seitdem arbeitete ich nur noch mit russischen Kreativen zusammen, die dem Regime und seinen Lügen sehr kritisch gegenüberstehen. Der russische Kontext ist sehr politisch und ideologisch; es gibt eine große Tradition von dissidenter, verschlüsselter Kunst, von Ironie bis Satire. Aber im Moment ist es unmöglich, Künstler:innen einzuladen, die in Russland leben, egal ob sie oppositionell denken oder nicht.
Weil ihnen die Ausreise schwer gemacht wird?
Degot
Auch weil sie im Westen kaum Visa kriegen. Und es gibt praktisch keine Flüge.
Zudem würden sie ein enormes Risiko eingehen, wenn sie in Graz regimekritische Kunst zeigten und anschließend wieder heimreisten.
Degot
Das auch, aber ich würde sagen, dass im Moment das Problem auf der westlichen Seite liegt. Es gibt da Vorschläge, den Sargdeckel zuzunageln und Russland für immer zu isolieren.
Der Westen will Russland als Ganzes ächten? Oder meinen Sie den russischen Nationalismus?
Degot
Nein, die westliche Strategie. Diese Isolierung spielt Putin in die Hände. Denn er sagt genau das: Der Westen hasse Russland eben, und er zeigt es auch. Meine Position ist vielleicht nicht objektiv, weil ich weiß, wie viele dissidente Stimmen es in Russland immer noch gibt, die ich unterstützen will. Aber es gibt Kollegen und Kolleginnen in vielen europäischen Ländern, die am liebsten vergessen würden, dass es Russland überhaupt gibt. Während des Zweiten Weltkriegs waren antifaschistische Flüchtlinge und Aktivisten in der freien Welt willkommen. Auch wenn Hitlers Angriffskrieg mit dem russischen nicht ohne Weiteres zu vergleichen ist: Die Willkommensfreude, die man russischen Oppositionellen entgegenbringt, ist gering.
Im Finale Ihrer Diskurs-Schiene gehen Sie der Frage nach, wie der Steirische Herbst in 50 Jahren aussehen könnte. Was denken Sie? Wird es Ihr Festival noch geben?
Degot
Das wird es immer geben, aber es kann verschiedene Formen annehmen. Es hat sich stets neu erfunden. Ich sehe es in der Zukunft als Einrichtung, die das ganze Jahr über in der Stadt präsent ist, die das Zentrum des künstlerischen und intellektuellen Lebens in der Region bildet, die zu Diskussionen und Vermittlungsprogrammen einlädt und im schönen Steirischen Herbst in einem extravaganten Treffen von Kunst und Menschen gipfelt.
Das klingt nun alles andere als apokalyptisch.
Degot
Ja, die Welt bleibt uns noch erhalten, hoffe ich. Bei allen Krisen. Mein Traum wäre es, wenn der Steirische Herbst ein eigenes Haus hätte. Wie die Ars Electronica, die ihr eigenes Zentrum hat, in dem auch abseits des Festivals das ganze Jahr über etwas zu sehen ist. Diese Struktur wäre ideal für Graz, für ein sehr spezifisches, interdisziplinäres Festival. Das ist natürlich auch ein budgetärer Traum.
Halten Sie Ihr Festival für unterdotiert?
Degot
Für jedenfalls nicht überfüttert. Wir sind ein kleines Festival geblieben, das ist kein Geheimnis.

 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.