"Wir sind ja keine Agentur"

Tocotronic: Die Diskurspop-Veteranen feiern ihr 25-jähriges Bandjubiläum

Tocotronic: Die Diskurspop-Veteranen feiern ihr 25-jähriges Bandjubiläum

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"Diese autobiografischen Songs stehen in krassem Widerspruch zu meinem eigenen Charakter", erklärt Dirk von Lowtzow, Kopf der deutschen Band Tocotronic, amüsiert. Privat sei er eigentlich "ein Wegschmeißer", jemand, der mit Memorabilia oder Souvenirs nichts anfangen könne. Er besitze nicht einmal alte Fotos von sich: "Ich blicke nicht gerne zurück - vielleicht auch aus Angst." Die Idee, eine musikalische Selbsterkundung zu veröffentlichen, hatte von Lowtzow vor drei Jahren. "Vielleicht hat es mit dem Alter zu tun oder ist hormonell bedingt", meint der Tocotronic-Sänger, Gitarrist und Haupt-Songschreiber. "Immerhin werde ich bald 47." Früher habe ihn das alles ohnehin nicht interessiert.

Die zwölf neuen Songs des zwölften Tocotronic-Albums, das ganz unbescheiden "Die Unendlichkeit" heißt, hat Dirk von Lowtzow wie im Rausch geschrieben. Es sei darum gegangen, auch Ausschussware zu produzieren, um am Ende nur jene Songs zu veröffentlichen, die eine bestimmte Lebensphase perfekt widerspiegeln. Das Scheitern ist beim autobiografischen Arbeiten Teil des Konzepts, meint er lakonisch: "Man verzerrt und verklärt automatisch, schießt ständig über das Ziel hinaus." Somit war es gerade diesmal unabdingbar, einige Songs ersatzlos zu streichen. Ergebnis: eine Coming-of-age-Geschichte, die einerseits sehr intim und persönlich klingt, andererseits auch Wert auf Universalität legt.

Universell ist zumindest die Ausgangslage der Erzählung. Anfang der 1990er- Jahre verschlug es Dirk von Lowtzow aus dem Schwarzwald ins weltoffene Hamburg. Im frech hingerotzten Gitarrenkracher "Hey Du" klingt es wie die Geschichte einer wilden Flucht. Geprägt wurde der Dorfpunk damals vor allem von der E-Gitarre, die der Teenager von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. "Für mich ist eine neue Welt aufgegangen", sagt er über die ersten musikalischen Gehversuche des späteren Indie-Rockstars. Er begann, eigene Songs zu schreiben, Künstler zu imitieren und "in einem Fantasieenglisch" dazu zu singen. 1993 gründete er gemeinsam mit Jan Müller und Arne Zank Tocotronic, die studentische Rockband mit Kunstanspruch. Mit Bands wie Blumfeld und Die Sterne hat das Trio nicht nur die Hamburger Schule, sondern auch den Begriff "Diskurspop" mitgeprägt: Aus Jugendparolen wie "Pure Vernunft darf niemals siegen", "Aber hier leben, nein danke" oder "Im Zweifel für den Zweifel" bastelte er einwandfreie Songklassiker.

Tocotronic gastiert am 13.4. in Salzburg (Republic) und am 28.7. in Wien (Arena Open Air)

Das enge Korsett eines chronologisch erzählten Konzeptalbums scheint den kreativen Prozess der Band nicht gehemmt zu haben: "Wir mögen Dogmen und starre Konzepte, selbstauferlegte formelle Zwänge. Mach alles, was du willst? Das funktioniert doch nicht", sagt von Lowtzow. Das neue Tocotronic-Album ist aus schnellen, präzisen Gitarrensongs, aber auch introvertierteren Indiepop- Miniaturen gebaut; die Stile passen sich fließend der jeweiligen Lebensabschnittsstimmung an. "Die Unendlichkeit", ist eine Erzählung von Liebe, Sucht, Perspektivlosigkeit und Tod (von Letzterem erzählt das wunderbare, fast heitere Erinnerungsstück "Unwiederbringlich"), von Selbstermächtigung und dem wilden Wirbel der jungen Jahre. Die untrügliche Fähigkeit, die Banalität des eigenen Daseins in berauschende Popsongs zu verwandeln, ist nicht jedem Song gleichermaßen anzumerken; als Gesamtkunstwerk geht das Konzept aber auf, weil "Die Unendlichkeit" auch musikalisch die vergangenen 25 Jahre Bandgeschichte Revue passieren lässt.

Die Überlegung, ein leicht verständliches Album zu bieten, gab es jedoch nie. "Wir sind ja keine Agentur", sagt von Lowtzow: "Wir arbeiten nicht zielgruppenorientiert." Er sieht seine Band auch nach einem Vierteljahrhundert im Musikgeschäft immer noch als Außenseiter - ein "schrulliger und anarchischer Haufen", der Musik für eine kleine , aber treue Hörerschaft macht. Im finalen Kapitel des Albums, in dem Song "Alles, was ich immer wollte, war alles", wagt Tocotronic einen Ausblick. "Was ich geschrieben habe / Wird jetzt ausradiert", singt Dirk von Lowtzow am Ende und klingt dabei durchaus erleichtert.

Tocotronic: Die Unendlichkeit (Universal)

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.