"Ich dachte, nur Peter Handke wohnt im Elfenbeinturm"

Dirk von Lowtzow: "Ich dachte, nur Peter Handke wohnt im Elfenbeinturm"

Tocotronic: Dirk von Lowtzow im Interview über "Die Unendlichkeit"

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profil: Anfang der 1990er-Jahre flohen Sie aus der baden-württembergischen Provinz nach Hamburg. Was war damals wichtiger: Gitarre oder Führerschein? Dirk von Lowtzow: Die Gitarre. Die habe ich mit zwölf, vielleicht 13 Jahren von meinen Eltern geschenkt bekommen. Für mich ist dadurch eine neue Welt aufgegangen. Ich habe sofort begonnen, eigene Songs zu schreiben, habe Künstler imitiert und in einem Fantasie-Englisch dazu gesungen. Eine Gitarre ist ja toll, sie ist zwar nur ein Ding, spricht aber durch den Sound zu dir.

profil: Ihr neues Album, „Die Unendlichkeit“, ist komplett autobiografisch, eine persönliche Coming-of-Age-Geschichte geworden. von Lowtzow: Das Album ist einerseits sehr intim und persönlich, andererseits aber auch universell. Es wäre schön, wenn wir als Band mit den Hörern in eine Art Dialog treten könnten. Die Menschen können somit zur Popmusikwerdung der Platte beitragen.

profil: Neigt man dazu, besonders in schwierigen Zeiten Nabelschau zu halten? von Lowtzow: Ganz im Gegenteil. Faszinierend fand ich, dass das autobiografische Arbeiten weniger ein Rückzug ins Private oder in die Innerlichkeit ist, als eine radikale Öffnung nach außen. Die Grenzen können erst durch die Reflexion aufgesprengt werden.

profil: Bereits auf dem Vorgängerwerk haben Sie den autobiografischen Weg gewählt. Wieso eigentlich? von Lowtzow: Zwei Stücke auf dem roten Album sind autofiktional gefärbt. Schuld sind diese ewig langen Fahrten im Tourbus, die zum Grübeln einladen. Vielleicht hat es mit dem Alter zu tun oder ist hormonell bedingt. Ich werde ja bald 47. Dieser Prozess, tief in der eigenen Biografie zu wühlen, hat mich nicht mehr losgelassen. Schön ist, dass man so ein Album nur einmal machen kann.

profil: Tocotronic feiert 2018 25-jähriges Bandjubiläum. Ein Grund, sich aus dem Elfenbeinturm zu wagen? von Lowtzow: Ich dachte, nur Peter Handke wohnt im Elfenbeinturm – und wir hätten bei ihm gar keinen Platz mehr gehabt. Die Überlegung, den Fans mal ein leichtverständliches Album zu bieten, gab es nie. Wir sind ja keine Agentur, arbeiten nicht zielgruppenorientiert. Das fände ich furchtbar. Tocotronic entwickelt sich auch heute noch rein intuitiv. Neue Dinge entstehen bei aus einer anarchischen Haltung heraus – oder sind rein zufällig.

profil: Dient Ihre Kunst der Lebensaufarbeitung? von Lowtzow: Diese autobiografischen Songs stehen ja im krassen Wiederspruch zu meinem eigenen Charakter. Persönlich blicke ich nicht gerne zurück – vielleicht auch aus Angst. Ich bin auch nicht nostalgisch veranlagt, bin vielmehr ein Wegschmeißer, jemand, der mit Memorabilia oder Souvenirs nichts anfangen kann. Ich besitze auch keine alten Fotos von mir und mache lieber Tabula rasa.

profil: Wie schwierig ist es, die eigene Vergangenheit nicht ein Stück weit zu verklären? von Lowtzow: Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, den richtigen Punkt zu setzen – und die Erinnerungen auch noch in einen Popsong zu gießen. Bei der autobiografischen Arbeit fehlt einem natürlich die Objektivität, man verzerrt oder verklärt automatisch, schießt ständig übers Ziel hinaus. Die Kunst ist, die richtige Balance zu finden und möglichst präzise zu arbeiten. Dabei hat mir unser Bassist Jan Müller geholfen. Man muss sich schon ständig selbst zensurieren.

profil: War das Album besonders arbeitsintensiv? von Lowtzow: Die Songs habe ich wie im Rausch geschrieben. Das Produzieren von Ausschussware war diesmal ein wichtiger Prozess. Es sollte nur die Essenz auf das Album, also jene Songs, die eine bestimmte Lebensphase perfekt widerspiegeln. Am Ende hatten wir 23 oder 24 Songs, aus denen wir dann die zwölf für das Album ausgesucht haben.

profil: Auch die Musik verändert sich mit Fortdauer des Albums stark: verschiedene Stile für verschiedene Lebensmomente? von Lowtzow: Die Idee, das Album auch chronologisch zu ordnen, von der Kindheit bis in die Zukunft, hatte unser langjähriger Produzent Moses Schneider. Dafür waren wir wohl betriebsblind. Es scheint ja auch unorthodox, eine Reihenfolge zu haben, ehe man noch den ersten Ton aufgenommen hat. Folgerichtig hat die Reihenfolge auch die Musik und die Arrangements beeinflusst.

profil: Hemmt so ein Korsett nicht auch den kreativen Prozess? von Lowtzow: Als Band mögen wir Dogmen und starre Konzepte, selbstauferlegte formelle Zwänge. Für den kreativen Prozess finde ich das enorm wichtig. Mach alles, was du willst? Das funktioniert doch nicht!

profil: „Die Unendlichkeit“ spannt einen zeitlich weiten Bogen. Hat die Vergangenheit etwas über die Zukunft zu erzählen? von Lowtzow: Bereits im Albumtitel steckt viel Science Fiction. Die Vorstellung, dass die Vergangenheit auf die Zukunft einwirkt und die Zeitkontinuität dadurch unterbrochen wird, fanden wir sehr spannend. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können sich vermischen, der Alltag gleitet in eine Parallelwelt ab, alles steht plötzlich Kopf. Das sind reizvolle Gedanken.

profil: Stand das Album angesichts dieses so persönlichen Konzepts nie an der Kippe? von Lowtzow: In den zwei Jahren der Produktion gab es viele Krisen. Wir haben das Album mehrmals auf Eis gelegt und überlegt, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Unser Vorteil war, dass wir uns diesmal viel Zeit gelassen haben.

profil: Halten Sie Scheitern in der Kunst für wichtig? von Lowtzow: Das Scheitern will man sich natürlich nicht eingestehen. Es gibt Stücke, die nicht so toll sind, auch wenn man der Meinung ist, es ist der beste Song, der jemals geschrieben wurde. Es ist unabdingbar, manche Lieder auch mal ziehen zu lassen.

profil: 2010 haben es die ewigen Außenseiter Tocotronic erstmals an die Spitze der Charts geschafft. Sind Sie im Mainstream angekommen? von Lowtzow: Also wirklich! Das war doch nur einem Zufall geschuldet. Unser einziges Nummer-eins-Album, „Schall & Wahn“, ist so seltsam, so kryptisch und aggressiv, dass es gar nicht in die damalige Zeit gepasst hat. Für eine Band wie Tocotronic, mit seiner kleinen treuen Hörerschaft, heißt so ein Zufallserfolg leider noch nicht, dass man im Mainstream angekommen ist. Auf der anderen Seite sind wir wohl ein zu schrulliger und anarchischer Haufen, um aus uns noch eine massenkompatible Brand zu machen.

profil: Haben Sie einen künstlerischen Lebensplan? von Lowtzow: Überhaupt nicht. Ich glaube nicht an das Schicksal, sondern an Zufälle. Jan Müller und Arne Zank hab ich ohne jede Absicht kennen gelernt. Das ist wie in der Liebe. Es kommt nur darauf an, ob man den Zufall fixiert und etwas daraus macht.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.