Biennale Venedig

Unter Fremden: Die Kunst-Biennale in Venedig setzt auf den Globalen Süden

Die Biennale di Venezia lotet die Peripherie der Gegenwartskunst aus, gibt sich queer, divers und dekolonial. Die weltweiten Disruptionen ziehen aber auch das Kunstgroßereignis in Mitleidenschaft.

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Venedig, Mitte April 2024. Die Luft ist kühl, der Himmel launisch, der Frühling lässt sich bitten. Die Kunstbranche strömt, dessen ungeachtet, bestens gelaunt aus allen Richtungen und vielen Teilen der Welt in den östlich von San Marco gelegenen Stadtteil Castello, um die diesjährige Biennale mit ein paar Tagen Vorsprung zu begutachten. Mit Spannung wurde sie erwartet: Wie werden sich die aktuellen Ideologiekämpfe, Schieflagen und Krisenherde bei der ältesten – und neben der Art Basel und der Kasseler Documenta wohl auch größten – internationalen Schau zeitgenössischer Kunst (an die 800.000 verkaufte Tickets verbuchte man 2022) abzeichnen? Wird der erste lateinamerikanische Chefkurator der Schau, der mit viel Vorschusslob bedachte Brasilianer Adriano Pedrosa, das sich zusehends verengende Feld der Gegenwartskunst neu öffnen, frische Kontexte liefern können?

Fast 130 Jahre ist die Kunst-Biennale alt. Seit 1895 findet sie im Zweijahresrhythmus statt, abwechselnd mit einer Großausstellung für Architektur. Tradition verpflichtet – auch zur politischen Wachheit: Die nunmehr 60. Ausgabe steht daher unter dem ambivalenten Motto „Überall Fremde“ („Stranieri ovunque“) und verhandelt in zahllosen Kunstfallstudien akute Themen wie Migration, Diaspora, Identitätsfragen.

Am Außenrand der Kunstwelt

Die Erklärung, dies sei das erste Mal, dass eine bestimmte Künstlerin, ein bestimmter Künstler im Rahmen der Biennale zu sehen sei, findet sich als Stehsatz auf nahezu jeder der den Werken beigefügten Informationstafeln. Tatsächlich war es Pedrosa – er fungiert auch als künstlerischer Leiter des Museu de Arte in São Paulo – offensichtlich nicht um prominente Namen und abgesicherte Ästhetiken zu tun, sondern um akribische Forschungstätigkeit an den äußeren Rändern der Kunstwelt. Vor allem Kreative aus dem Globalen Süden, aus Afrika, dem Nahen Osten und Südamerika sind es, die er ins Zentrum stellt, jede Menge queerer, indigener und diverser Positionen, auch Outsider Art und Autodidaktik sowie viel Textil- und Keramikkunst.

Pedrosa tänzelt dabei entlang dem schmalen Grat zwischen regionaler Vision und Ethno-Kitsch, zwischen Geistesblitz und Kunstgewerbe. Rekordverdächtige 331 Kunstschaffende und Kollektive aus 80 Ländern präsentiert er allein im offiziellen Programm – die von den Ländern autonom programmierten Pavillons und die zahllosen flankierenden Ausstellungen und Performances kommen noch dazu. Auch aus dem entlegenen Österreich stammen zwei der Kunstschaffenden, die Pedrosa für seine Weltkunst-Neuvermessung ausgewählt hat: Die 95-jährige Greta Schild, geboren in Hollabrunn, aber seit Jahrzehnten in Italien daheim, zeigt ihre kalligrafisch besetzten Bilder und Steine; und die sanft gespenstischen Miniaturen des Mistelbacher Art-Brut-Malers Leopold Strobl, Jahrgang 1980, sind im zentralen Pavillon zu sehen.

Letzte Handgriffe

An vier Pre-Opening-Tagen, zwischen 16. und 19. April, öffnet sich die Großausstellung also den hereindrängenden Kunstbetriebsprofis, ehe sie ab Samstag endlich für die Öffentlichkeit bereitstehen wird. Im Shop des Zentralpavillons wird noch gepinselt, und auch andernorts sind kleinere Baustellen sichtbar, auf denen letzte Maßnahmen getroffen werden. An den beiden Biennale-Hauptschauplätzen, in der von Kieswegen durchzogenen, baumbestandenen Grünruhelage der Giardini und im weitläufigen historischen Arsenale bilden sich schon morgens Schlangen, insbesondere vor den Eingängen der jeweils angesagten Pavillons, durch die das interessierte Publikum erstaunlich systematisch geschleust wird; abends besetzt das internationale Kunstvolk die Bars und Restaurants entlang der an die Giardini grenzenden Via Garibaldi, die nur um diese Zeit des Jahres kurzfristig das Flair eines Boulevards an der Cote d’Azur annimmt.

An diesen ersten Biennale-Tagen geht an Angeboten so viel zugleich über die Bühne, dass es fast unmöglich ist, dabei den Überblick zu bewahren. Wenn man an einem der Preview-Nachmittage einen falschen Eingang nimmt, kann es passieren, dass man sich unversehens im Zuschauerraum einer Show befindet, in der Ahmed Umar, ein aus dem Sudan stammender norwegischer Künstler und LGBTQ-Aktivist, in prachtvollen handgenähten Kostümen traditionelle sudanesische Brauttänze neu interpretiert.

Doch nicht alles hier besitzt Umars Glamour. Die Verwerfungen der Gegenwart hinterlassen ihre Spuren in der Kunst. Im deutschen Pavillon herrscht immerhin noch der Trost der starken Form. Hier nimmt die israelische Künstlerin Yael Bartana, die in Berlin lebt, symbolisch Abschied von der Menschheit in einer monumental inszenierten Futurismus-Installation, in der Raumschiffmodelle und eine Art posthumanes Ritual auf Videogroßbildschirm entscheidende Rollen spielen; der Theatermacher Ersan Mondtag begegnet der faschistischen Architektur des Deutschlandhauses mit dem „Monument eines unbekannten Menschen“, ausgehend von der Migrationsgeschichte seines anatolischen Großvaters. Apokalyptisch-poetisch geht es im britischen Pavillon zu, wo der Filmkünstler John Akomfrah, auch er ökologisch bewegt, eine komplexe, über viele Schauräume und Dutzende Bildschirme verteilte Videoarbeit namens „Listening All Night to the Rain“ zeigt.

Knalleffekt und Flashmob

Anderswo ist die Kunst mit ihrem Latein buchstäblich am Ende. Mit einem Knalleffekt startete die Biennale 2024, noch ehe sie tatsächlich zu besichtigen war. Vor wenigen Tagen, nach Monaten des Tauziehens um einen möglichen Boykott des israelischen Pavillons (fast 24.000 kunstaffine Menschen haben den Brief einer anonym formierten, antiisraelischen „Art Not Genocide Alliance“ unterschrieben, profil berichtete), verlautbarte die Künstlerin Ruth Patir gemeinsam mit ihren Kuratorinnen, dass ihre fertiggestellte Ausstellung vorläufig geschlossen bleiben werde; eine Texttafel an der Tür informiert darüber, dass der Pavillon erst öffnen werde, wenn ein Waffenstillstand zwischen Israel und Palästina und eine Übereinkunft zur Freilassung der Geiseln erreicht seien.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.