Kultur

Viennale: Blick unter die Bauchdecke

Die 60. Viennale bietet Expeditionen durch die unwegsamen Territorien des Gegenwartskinos. Zwölf Empfehlungen zum Einstieg.

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Man hätte, angesichts der Vorabmeldungen zur diesjährigen Viennale, auf die Idee kommen können, Wiens internationales Filmfestival konzentriere sich heuer vor allem auf nationales Kino: Erst hieß es, man wolle die Österreich-Premiere von Ulrich Seidls schon unbeschaut heftig umstrittenem Psychogramm „Sparta“ abhalten (Festivals seien dazu da, Filme wie diesen „zur Diskussion zu stellen“), dann kürte man noch Tizza Covis und Rainer Frimmels bewegendes Frauenporträt „Vera“ zum Eröffnungsfilm. Ein genauerer Blick enthüllt jedoch, dass beide Produktionen gerade im Rahmen eines dem Weltkino geltenden Festivals allerbesten Sinn ergeben: Diese Filme mögen aus Österreich stammen, aber ihre Drehorte liegen weit jenseits austriakischer Binnenwelten (nämlich in Nordrumänien sowie im suburbanen Rom), und thematisch-stilistisch zielen sie ohnehin in einen universellen Humanismus. In diesem Sinn hat Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi auch den großen, sehr überregionalen Rest ihres diesjährigen Programms zusammengestellt. Unter den Meisterstücken des Jahrgangs 2022 finden sich Perlen wie David Cronenbergs subversiv gemächliche Menschenmutations-Parabel „Crimes of the Future“, in der das schöne Innere der Menschen gleich unterhalb der Bauchdecke beginnt, aber auch Überraschendes wie das verquere Historiengemälde „Unrueh“ (Regie: Cyril Schäublin), das bildgewaltig und unorthodox vom technischen Fortschritt in einem verschlafenen Schweizer Nest während der 1870er-Jahre erzählt. 

In jenem Kino, das von Institutionen wie der Viennale favorisiert wird, also weit jenseits der industriellen Zerstreuungslust liegt, werden die politischen und ökologischen Krisen der Gegenwart in den Blick genommen: Den iranischen Widerstandsgeist etwa metaphorisiert der inzwischen inhaftierte Regisseur Jafar Panahi in seinem jüngsten Film „No Bears“, einer komplizierten Geschichte von Bildermacht und Repression. Zu den stärksten Debüts dieses Jahres gehört das über Familienbande und Drogenhandelskonflikte gespielte Drama „Robe of Gems“, eine atmosphärisch dicht gewobene Arbeit der mexikanisch-bolivianischen Filmemacherin Natalia López Gallardo. Heiterer gibt es nicht nur die Hommage an die inzwischen 90-jährige Film- und Bühnensatirikerin Elaine May, deren vier Regiearbeiten sich hier versammelt finden (insbesondere die drei Werke aus den 1970ern sind exquisit), sondern auch zwei unverhohlen bizarre neue Produktionen des Franzosen Quentin Dupieux („Incroyable mais vrai“ und „Fumer fait tousser“) sowie der Crowdpleaser „The Banshees of Inisherin“: Die von Martin McDonagh konzipierte irische Dörflerfabel bietet einem famosen Ensemble, allen voran Colin Farrell und Brendan Gleeson, viel Spielraum für einen sich dramatisch verschärfenden Zwist unter Freunden. Der Vorverkauf hat soeben begonnen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.