Interview

Wald, Acker, Trauma: Ludwig Wüsts neues Psychodrama

Im profil-Interview erzählt Regie-Maverick Ludwig Wüst von Psychotricks und Schubert-Liedern, von seiner Ägypten-Sehnsucht und der Arbeit an seinem neuen Film „I Am Here!“

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Er folgt keinen Trends und bildet keine Schulen: Der aus Bayern stammende Künstler Ludwig Wüst ist ein Solitär. Seit 1987 lebt er in Wien, und als vielfach Begabter ist er aus der hiesigen Filmszene inzwischen nicht mehr wegzudenken: Wüst, 58, ist gelernter Tischler, neben seiner Regiekarriere im Theater und im Kino aber auch studierter Sänger, Gelegenheitsschauspieler und wagemutiger Autor, der in seinen trügerisch ruhigen, abgründigen Filmen wie besessen Neuland zu erschließen sucht. Seit 1999 arbeitet er am Kino, lange auf eigene Kosten und ohne Rücksicht auf persönliche Verluste. Seine klug gebauten Filme widersetzen sich allen Mainstream-Geboten, legen Wert auf Subversion und Trauma-Deutung.

Auch Wüsts jüngstes, seit heute im Wiener Metro-Kino (bis 27.5.) zu besichtigendes Werk, das den nachdrücklichen Titel „I Am Here!“ trägt, ist eine eigenwillige Konstruktion: Ein Mann und eine Frau, seit Kindheit befreundet, beschließen, einander im Rahmen eines langen Waldspaziergangs überraschende Enthüllungen zu machen. Martina Spitzer und Markus Schramm, beide seit langem Teil der erweiterten Wüst-Entourage (zu der auch der Kameramann Klemens Koscher und die Produzentin Maja Savic gehören), sind die sehr ungleichen Sparring-Partner dieser Erzählung: sie sanft, in sich ruhend, empathisch auf ihr Gegenüber reagierend, er unberechenbar, psychisch überlastet, zu selbstzerstörerischen Ausbrüchen neigend. Wüsts Outdoor-Psychodrama entwickelt sich langsam, in genau komponierten, niemals selbstgefälligen 16mm-Filmbildern, in denen ganz beiläufig Naturstudien betrieben werden – und aus dem unüblich genauen (und maßvollen) Umgang mit Raum, Licht, Bewegung und Sprache ein wahrhaft oppositionelles Kino entsteht. „I am Here!“ ist einer jener raren Filme, die sich nicht größer machen wollen, als sie sind – eher im Gegenteil: Die Grenzen seines Budgets und die Sprödheit seines Unternehmens weiß Wüst klug für sich zu nutzen.

„I Am Here!“ ist ein minimalistisch arrangiertes Zwei-Personen-Drama, dessen Dialoge man für improvisiert halten könnte.
Wüst
Ja, aber das täuscht. Ich habe sprachlich alles haargenau vorgegeben und geschrieben, die Dialoge während der ausführlichen Probenarbeit zudem gemeinsam mit Martina Spitzer und Markus Schramm noch angepasst; aber als wir drehten, stand jedes Wort fest. Ich habe etliche Filme mit frei improvisierten Texten inszeniert, das war diesmal anders. Die Szene am Acker war diesbezüglich die schwierigste: Markus Schramm musste seinen langen Monolog mit exakt fixierten Pausen und Blicken spielen. Ich habe noch nie eine solche, fast Haneke-artige Millimeterarbeit geleistet.
Sie hatten den Film mit einer Videokamera am Ort des Geschehens schon einmal gedreht?
Wüst
Ja, wir gönnten uns diesen Luxus. Dann erst ist die Idee entstanden, auf 16mm-Film zu drehen, der eben besonders adäquat ist für den Ort, die Menschen und die Besonderheit des Themas.
Der Wind in den Blättern der Bäume, die Konsistenz der Erde, die Textur des Holzes, für all das eignet sich fotografisches Filmmaterial einfach besser.
Wüst
Absolut. Ich kenne diesen Wald bei Perchtoldsdorf, der am Abgrund eines Steinbruchs liegt, seit Jahren schon, halte ihn für magisch. Gerade auch, weil man ihm die menschlichen Eingriffe so sehr ansieht. Die Bäume haben alle Zumutungen bislang überlebt, allerdings schwer verletzt.
Warum aber haben Sie den gesamten Film vorab auf Video inszeniert? Sehr ökonomisch erscheint das nicht.
Wüst
War es aber, denn so konnten wir die filmische Auflösung präzise festlegen – und schließlich zeit- und ressourcenschonend auf Film drehen. Und weil wir mit einem sehr geringen Budget arbeiteten, aber teuren fotografischen Film benutzen wollten, wussten wir, dass wir von jeder Szene lediglich drei Takes machen konnten, mehr Material stand uns nicht zur Verfügung. Der zweite Take war übrigens immer der beste.
Ließen Sie trotzdem immer noch einen dritten anfertigen?
Wüst
Ja. Beim ersten Take war klar, dass wir alle nervös sein würden. Beim zweiten wusste man sehr genau, was man tut, konnte sich aber auch entspannen, weil ja feststand, dass es noch einen dritten geben würden. Ich sagte dem Team, ihr könnt beim zweiten Versuch beruhigt ans Werk gehen, denn der dritte würde dann der beste werden – aber ich wusste insgeheim, dass es natürlich der zweite sein würde.
Guter Psychotrick.
Wüst
Definitiv. So war das geplant.
Ihre alte Idee vom Verschwinden des Regisseurs, der nur noch konzipieren soll, aber beim Dreh gar nicht mehr anwesend sein muss, haben Sie ad acta gelegt?
Wüst
Nein! Ich stecke ja bereits tief in weiteren Projekten, wo es wieder stark in die Richtung geht, dass ich mich – wie schon im Fall meines Films „3:30“ (2020) – selbst überflüssig mache. Ich arbeite viel lieber sehr genau an einem bestimmten Text und studiere diesen mit der Person ein, die ihn spielen soll. Die anschließende Aufzeichnung braucht mich dann oft nicht mehr; es wäre sogar kontraproduktiv, wenn ich dabei wäre. Aber „I Am Here!“ war schon speziell: Das ist mein mit Abstand am präzisesten vorbereiteter Film. Und trotzdem hat er, glaube ich, eine schöne Lebendigkeit, was vor allem dem Duo im Zentrum zu verdanken ist.
Erstaunlich viele Ihrer Werke, etwa „Abschied“, „Aufbruch“ oder „Koma“, sind Zweierporträts. Was zieht Sie an dieser Form so sehr an?
Wüst
„I Am Here!“ ist eine Art Spiegelung der männlichen und der weiblichen Sicht. Denn beide Figuren haben ja das gleiche Thema. Es geht um den Tod der Mutter und den Umgang damit. Die eine erzählt ihre Geschichte im Wald, der andere seine auf einem Feld: Auch dies ist eine Dualität – die Vertikale und die Horizontale. Und in beiden Fällen geht es ums Graben, ums Vergraben und ums Auslöschen.   
Videobilder aus Ägypten, die Sie 1999 in Vorbereitung Ihrer ersten Kinoarbeit gedreht haben, beginnen und beenden „I Am Here!“. Ihre Filme erscheinen auch sonst sehr persönlich. Bearbeiten Sie in und mit Ihrer Arbeit Selbsterlebtes, eigene Erinnerungen und Verwundungen?
Wüst
Vermutlich, wiewohl ich sagen kann, dass keine der in „I Am Here!“ erzählten Geschichten meiner eigenen auch nur entfernt ähnelt. Die in meinen Filmen verhandelten Stories treffen mich oft ganz plötzlich, gehen meist von einem Ort oder einem zufällig gefundenen Objekt aus. Und was die ägyptischen Videobilder betrifft: Die Idee, dass eine Hauptfigur ein Lebenstrauma auflöst, indem sie alles, was sie bisher hatte und getan hat, vergräbt, verbrennt und hinter sich lässt, diese utopische Idee verfolgt mich seit weit über 20 Jahren. Ich schrieb und inszenierte 1999 ein Theaterstück im Künstlerhaus, „Auslöschung 2“ hieß es, da ging es schon um jenes Thema. Und mit Ägypten fühle ich mich ebenfalls jahrzehntelang verbunden, ich versuche, so oft wie möglich, dorthin zu reisen, wo ich meine filmische Initiation hatte. Denn in der Wüste südlich von Kairo hat mich damals die jähe Sehnsucht erwischt, Filmemacher zu werden. Das war tatsächlich ein Erweckungserlebnis in einer Landschaft, die mir so abstrakt und klar erscheint, wie jenseits von Zeit und Raum.  
In Ihren Filmen findet sich bisweilen Rätselhaftes, nicht alle Schleier werden gelüftet. Was hat es etwa mit den Liedern auf sich, die Martina Spitzer in „I Am Here!“ immer wieder singt?
Wüst
Das sind drei Strophen desselben Lieds, das aus Schuberts „Die schöne Müllerin“ stammt: Es heißt „Die liebe Farbe“. Das ist eines meiner Lieblingslieder. Aber als jemand, der einst klassischen Gesang studiert hat, achte ich die Musik so sehr, dass ich sie selten verwende.
Nennen Sie bitte filmische Vorbilder!
Wüst
Ohne Regieikonen wie Raymond Depardon, Chantal Akerman, Pedro Costa, Marguerite Duras, John Cassavetes oder Robert Frank wäre ich niemals Filmschaffender geworden. In den letzten Jahren hat mich aber eher das japanische Kino erwischt: die Filme eines Yoshida Kiju etwa oder eines Hiroshi Teshigahara. Europas Autorenfilm inspiriert mich dagegen immer weniger. Für „I Am Here!“ aber gab es kein eigentliches Vorbild. Mir stand dieser Film glasklar vor Augen.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.