Interview

Was der Wiener Pathologe Sedivy durch 20.000 Obduktionen gelernt hat

Der Wiener Pathologe und Autor Roland Sedivy hat über 20.000 Leichen obduziert. Ein Gespräch über entstellte Leichname und grauenerregende Gerüche, Leben und Tod.

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Einen gewissen Hang zum Morbiden kann man Roland Sedivy nicht absprechen. In seinem Haus am Rand von Wien blicken einem viele Totenköpfe mit leeren Augen entgegen, einmal als eine Art Accessoire im Buchregal, dann wieder in Form eines silbrig schimmernden Tischuntersatzes. Sedivy, 60, ist gewissermaßen vom Fach: Der Wiener ist Universitätsprofessor für Pathologie, Lebens- und Sozialberater sowie Autor von inzwischen vier Büchern, wovon jüngst „Totenschau“ erschienen ist,

in dem Sedivy Selbsterlebtes aus dem Seziersaal und Historisches versammelt: Autopsie-Geschichten über Einsteins Hirn und wie der NS-Massenmörder Reinhard Heydrich unters Messer kam. Von 2007 bis 2016 war Sedivy Leiter der klinischen Pathologie des Landesklinikums St. Pölten, seit 2019 lehrt er an der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität und wurde heuer auf den Lehrstuhl für klinische Pathologie und Molekularpathologie berufen. Sedivy ist ein so humorvoller wie gewitzter Gesprächspartner. Es gibt an diesem langen Novembernachmittag über den Tod einiges zu lachen.

 

Professor Sedivy, es heißt, das letzte Hemd habe keine Taschen. Können Sie das bestätigen?
Roland Sedivy
Ja und nein. Wer in die Pathologie kommt, ist nackt. Meist liegen die Verstorbenen unter einem Leintuch. Am Ende werden sie in festlicher Kleidung in den Sarg gelegt. Das letzte Hemd hat womöglich wieder Taschen.
Sie sind einer der wenigen Menschen, denen man folgende Frage stellen kann: Wie erinnern Sie sich an Ihre erste Leiche?
Roland Sedivy
Während des Medizinstudiums sah ich zuerst Leichenteile: Arme, Beine, Füße. Mein erster Gedanke war: Da liegen Teile einer Schaufensterpuppe, irgendwie unecht, als habe jemand abgehackte Halloween-Plastikgliedmaßen besorgt. Die Hautfarbe war komplett anders als bei lebenden Menschen, fahl und blass. Mich irritierte der Geruch. Schwaden von Phenol durchzogen die Anatomie.
Und Ihre erste Obduktion?
Roland Sedivy
Meinem ersten Leichnam begegnete ich Anfang der 1980er-Jahre im Wiener Franz-Josefs-Spital. Der tote Mensch auf dem Metalltisch war für mich noch immer etwas Fremdes. Erst nachdem ich mich ganz für die Pathologie entschieden hatte, änderte sich das allmählich. Schon damals empfand ich allerdings eine gewisse Widersprüchlichkeit bei der Arbeit.
Von welcher Art Diskrepanz sprechen Sie?
Roland Sedivy
Den Leichnam, der vor mir auf dem Edelstahltisch liegt, beginne ich als Teil meines Berufs zu obduzieren – sobald der Tote im Sarg liegt, verwandelt sich die sterbliche Hülle in den Menschen zurück. Es kam öfter vor, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief, als ich jäh realisierte, dass der Körper unter meinem Messer ein Mensch ist – und kein Objekt, das ich seziere. Offenbar gibt es einen Schalter in meinem Kopf, der es mir ermöglicht, zwischen einem Leichnam als Objekt meiner Berufsarbeit und dem toten Menschen im Sarg zu unterscheiden. Es macht klick, und ich bin in einer ganz anderen Welt.
Allzu viele Menschen dürften diesen Schalter im Kopf nicht haben.
Roland Sedivy
Wahrscheinlich nicht. Ich hatte nie Probleme mit meiner Arbeit, sie hat mich auch nie in meine Träume hinein verfolgt. Ich kann mich an keinen Alptraum erinnern, selbst aus der frühen gerichtsmedizinischen Zeit nicht, als ich mit entstellten Leichen zu tun hatte. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sagen, man stumpfe mit der Zeit ab. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich hatte das nie. Vielleicht wäre ich auch ein guter Serienmörder geworden.
Sie haben Ihre Karriere als Gerichtsmediziner begonnen und arbeiten seit 30 Jahren als Pathologe. „Autopsie“ lässt sich mit „selbst schauen“ übersetzen. Haben Sie alles gesehen?
Roland Sedivy
So ziemlich alles. Dennoch habe ich nie die Faszination an der Pathologie verloren, weil jeder Mensch etwas Besonderes ist, kein Fall dem anderen gleicht. Dazu kommt, dass ich schon früh das Gespräch mit Hinterbliebenen suchte. So entsteht ein ganz anderes Bild von jenem Menschen, dessen toten Körper ich öffne. Es kommt die Familiengeschichte dazu, der Weg des Todes, sein Leben.
Die Leiche auf Ihrem Tisch „erzählt“ Ihnen nichts über ihr entschwundenes Dasein?
Roland Sedivy
Bis auf die durchlebten Krankheiten selbst leider nur wenig. In einer Art Dreischritt darf ich erleben, wie Tote in der Prosektur zumindest wieder eine gewisse Form von Lebendigkeit erlangen: Zuerst ist da dieser kalte, tote Körper, dann der Mensch im Sarg – durch die Gespräche mit den Hinterbliebenen kommt schließlich wieder Leben in den Toten.
Immunisiert Sie Ihr Beruf für die Banalität des Alltags? Oder können Sie sich noch ärgern, wenn Ihnen ein anderer Autofahrer die Parklücke vor Ihrer Nase wegschnappt?
Roland Sedivy
Und wie! Manchmal fliegt mich sogar folgender Gedanke an: Na warte, dich hätte ich gern auf meinem Tisch!
In „Totenschau“, Ihrem neuen Buch, erzählen Sie unter anderem, dass Sie sich beim Mittagessen im Kreis Ihrer Familie mit den Berichten aus der Pathologie einbremsen müssen …
Roland Sedivy
… es kommt durchaus vor, dass auf unserem Mittagstisch ein plastiniertes Herz oder Hirn liegt. Im Wiener Narrenturm gibt es zahllose historische Feuchtpräparate hinter Glas, die man nicht angreifen kann. Ein Münchner Prosekturgehilfe, der bei Gunther von Hagens das dauerhafte Konservierungsverfahren toter Körper erlernt hatte, plastinierte für meine Vorlesung einige Präparate aus dem 19. Jahrhundert. Wer mich kennt, weiß, dass ich ständig über irgendwelche Organe plaudere. Kommen allerdings Gäste zum Schweinsbraten, bleibt das plastinierte Herz im Schrank.
In „Totenschau“ ist zu lesen, viele Pathologen würden ihre Berichte bevorzugt blumig formulieren. Sie ebenfalls?
Roland Sedivy
Ich bemühe mich stets, schöne Obduktionsberichte zu schreiben. Früher war der Vergleich „hühnereigroß“ gängig. Heute werden dazu Zahlen verwendet, weil Eier unterschiedlich groß sind. Begriffe wie „zimtfarbene Schnittfläche“, „Cottage-Cheese-artig“, „blumenkohlartiger Tumor“, „Speckmilz“ und „Muskatnussleber“ sind nach wie vor in Verwendung.
Es heißt, Sie würden zuweilen auch eigene Begriffe generieren.
Roland Sedivy
Zum Beispiel „kipferlförmig“ statt „halbmondförmig“. Meine Sekretärin musste schallend lachen, als sie den Befund schrieb.
Wie lange dauert eine Obduktion in der Regel?
Roland Sedivy
Das hängt von der Fragestellung und vom Körper ab. Meinen Studierenden erkläre ich das gern am Beispiel eines jungen Mannes mit 70, 80 Kilo, der in der Vorlesung sitzt: „Wissen Sie, mit Ihnen wäre ich in einer halben Stunde fertig. Sie sind jung und gesund, Ihre Organe gut in Schuss, ergo habe ich nicht viel Arbeit.“ Dann wieder gibt es folgende Situation: Auf der Gerichtsmedizin hatten wir den Fall einer Prostituierten, die mit 24 Messerstichen ermordet worden war. Eine solche Obduktion kann viele Stunden dauern.
Der Autor Hans Christian Andersen und der Philosoph Arthur Schopenhauer hatten Angst vor dem Scheintod. Woher rührt diese Furcht?
Roland Sedivy
Im 19. Jahrhundert wurde beispielsweise über die entstellten Gesichter von Toten berichtet – bleibt der Mund nach dem Sterben offen, schaut das tatsächlich fürchterlich aus, wie ein Todesschrei. Um das zu vermeiden, wird den Verstorbenen heute mit einer Mullbinde der Mund hochgebunden.
Im 19. Jahrhundert ging man auch davon aus, dass erst die Leichenfäulnis die Garantie des sicheren Todes sei.
Roland Sedivy
Es herrschte damals schiere Panik! Deshalb wurde die Liegedauer für Leichname verlängert. Ja, nicht Totenflecken und Totenstarre waren ausschlaggebend, sondern die Leichenfäulnis. Man baute eigene Totenhäuser. Erst wenn die gestapelten Leichname fürchterlich stanken, wurden sie beerdigt.
Der 1902 verstorbene Pathologe Rudolf Virchow bemerkte, er habe zigtausende Leichen obduziert, aber nie eine Seele gefunden. Sie vielleicht?
Roland Sedivy
Leider nein. Dieses Problem lässt sich rein morphologisch nicht lösen, allenfalls philosophisch oder theologisch, je nach Gusto. Die Seele, wenn es sie denn gibt, ist immateriell, meine Tätigkeit rein materiell.
Wenn die Seele ins Spiel kommt, dann wird selbst der kalte Vorgang der Leichenöffnung spirituell.
Roland Sedivy
Wer in die Augen toter Menschen blickt, sieht reine Mattigkeit, das Fehlen jeden Glanzes. Lebt der Mensch, funkeln die Augen, es ist Tiefe da, die beim Gegenüber im Idealfall etwas zum Schwingen bringt. Bei toten Menschen fehlt etwas. Bestimmte Erlebnisse wiederum gehen unwiderruflich in mein Seelenleben über, wie jenes an einem Weihnachtsabend, als ich eine junge, schwangere Frau obduzierte, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Ein Kapitel in „Totenschau“ ist mit „Wie ein Pathologe die Welt sieht“ überschrieben. Wie sehen Sie diese?
Roland Sedivy
Differenziert. Meine Leben teilt sich in eine Zeit ohne und mit Leichen. Der Beruf prägt den Umgang mit dem Leben und dem Tod, formt die Beziehung zu Menschen. Ich benötige keine Psychotherapie. Das Leben als Pathologe ist für mich Psychotherapie genug.
Inwiefern hat Sie Ihr Beruf verändert?
Roland Sedivy
Ich kann mich wie jeder von uns über Alltagskram ärgern, die Wertschätzung des Lebens an sich ist aber eine ganz andere geworden. Es ist gewiss schöner, in einem BMW statt in einem kleinen Renault herumzukurven. Letztlich ist es aber nicht wichtig. Die Pathologie hat meine Perspektive auf das Leben verändert, geschärft. Beziehungen sind am Ende viel wichtiger als jeder BMW.
„Carpe diem“, empfahl der römische Dichter Horaz.
Roland Sedivy
Genieße den Tag! Sei achtsam! Die Achtsamkeit gegenüber dem Leben muss ich nicht in Seminaren büffeln, die kann ich in meinem Job jeden Tag lernen. Astronomie ist eines meiner Hobbys. Viele Menschen sind dem Zauber gegenüber nicht mehr empfänglich, den es Nacht für Nacht am Firmament zu bestaunen gibt. Das Leben sollten wir wie einen Schwamm aufsaugen! Das Leben sollte uneingeschränkt geschätzt werden. Glück ist nicht zwangsläufig ein Lotto-Sechser, es kann auch eine seltene Sternenkonstellation sein.
In Ihrer Gegenwart ist es dennoch schwer, nicht an den Tod zu denken.
Roland Sedivy
Vielleicht werde ich in meinem nächsten Leben Hebamme. Auf der Geburtenstation lachen und freuen sich alle. Bei meinen diagnostischen Gesprächen mit Patientinnen und Patienten wird häufig geweint. Ich bin immer der Hiob. Manchmal stimmt mich das durchaus melancholisch. Ich musste dennoch nicht weinen, als ich einen 33-Jährigen obduzierte, der sich Konterfeis seiner Kinder tätowieren hatte lassen. Welch unermesslicher Verlust! Von Trübsinn bleibe ich am Seziertisch verschont, von einem bestimmten Mitschwingen nicht.
Muss man als Pathologe lernen, den ganzen Tag am Seziertisch zu stehen und sich zum Abendessen ein Mettwurstbrot zu schmieren?
Roland Sedivy
Durchaus. Als junger Pathologe wurde ich von meiner Mutter immer ermahnt: „Roland, kannst du das Hendl nicht einfach essen! Musst du es immer gleich sezieren!“ Schlimmer sind aber die Gerüche. Analog zum Ohrwurm bleibt bei mir manchmal ein „Nasenwurm“ hängen.
Irgendwann wird auch Ihre letzte Stunde schlagen.
Roland Sedivy
Ich habe meine Optionen, mich allerdings noch nicht entschieden. Vielleicht ende ich als Pathologenhirn hinter Glas in einer pathologisch-anatomischen Sammlung.
Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.