Jahresausgabe

Weshalb Kunst und Kultur so relevant sind wie nie

In unserer Polykrisenzeit wird ein altes Thema neu beschworen: Die Kultur habe ihren Reiz eingebüßt und ihre Relevanz verloren. Stefan Grissemann ahnt: Das Gegenteil ist der Fall.

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Es sieht, zugegeben, im Inneren vieler Kulturinstitutionen gegenwärtig ein wenig deprimierend aus: Die Zuschauerreihen in den Theatern, Opernhäusern und Kinos sind schütter besetzt, selbst Blockbuster-Ausstellungen stoßen auf weit weniger Interesse als geplant, und das Ringen um politische Aktualität in einer von multiplen Krisen erschütterten Welt führt nicht nur in den Direktionskonferenzen, sondern auch bei den Kulturangeboten zu pflichtschuldiger Themenanpassung und irritierten Kurskorrekturen.

Aber so ist das in Zeiten der politischen und ökologischen Konfusion; die Kunst reagiert auf die fundamentale Unsicherheit der Gegenwart auf ihre spezifische Weise: Sie spiegelt diese Unsicherheit, indem sie deren Kern zu fassen versucht, in drastischen Bildern und vieldeutigen Inszenierungen an uns zurück. Die Komplikationen, die sie dabei erzeugt, mögen jene, die sich von ihr stabile Orientierung und Herzensbildung erwarten, frustrieren, sie sind jedoch kein Grund, der Kultur insgesamt, wie es dieser Tage geschieht, gleich einen Verlust an Relevanz zu unterstellen. Natürlich, der spürbare Publikumsverlust ist eine massive, vor allem wirtschaftliche Herausforderung für alle Kulturbetriebe. Aber seit wann wird die langfristige Substanz künstlerischer Arbeiten nur noch in Quoten, Online-Zugriffen und Ticketverkäufen gemessen? 

Das Zögern der Zuschauerschaft, die in einer sich transformierenden Welt um Leitlinien bemüht ist, und die neue, möglicherweise auch "gesunde" Distanz zum ungehemmten Kulturkonsum sind ja nicht schwer zu erklären: Die Folgen einer Pandemie, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist, sind offensichtlich: Die bald drei Jahre andauernde Einübung in distance culture hat naturgemäß als Konsequenz die inzwischen fest etablierte Option des Heimkulturgebrauchs. Der präpandemische Reflex des kulturellen Unterwegsseins, über das man nicht lange nachdenken musste, ist einem stark selektiven Umgang mit der Kunst (und mit einer viral und inflationsverseuchten Außenwelt insgesamt) gewichen. Das Risiko von Infektion und Budgetloch ist man bereit zu tragen-aber nur, wenn es nicht anders geht. Das ist keine nur schlechte Nachricht: Wenn die Entscheidung für die Kunst bewusster und skrupulöser getroffen werden muss, wird diese möglicherweise auch leidenschaftlicher erlebt werden.

Nicht alle teilen diesen zarten Optimismus. Der Wiener Autor Fabian Burstein gehört zu den neuen Kulturskeptikern, er polemisiert in seinem unlängst erschienenen Essay "Eroberung des Elfenbeinturms" (publiziert in der Edition Atelier) gegen einen angeblich gelähmten, die Welt nicht mehr begreifenden Kunstbetrieb. "Streitschrift für eine bessere Kultur" nennt er seine Einlassungen und fordert ein neues Nachdenken über den Zustand und Begriff der Kultur ein. In manchem ist ihm zuzustimmen, seiner Entrüstung über undurchsichtige Besetzungsmodalitäten und bizarre Kulturskandale etwa. Und moralische Anstalten sind die Kulturinstitutionen, wie er schreibt, vielleicht tatsächlich nicht mehr, aber müssen sie das denn sein? Burstein setzt die verrottete politische Moral mit der kulturellen in eins-und wittert Machtmissbrauch, Subventionsverschwendung, Chauvinismus und Korruption, fantasiert von einem Kulturbetrieb, der jungen oder sozial schwächer gestellten Menschen nichts anzubieten hätte.

Der "Elfenbeinturm der Hochkultur", den Burstein geißelt und den "wir uns" zurückerobern sollten (als spräche er für "uns alle"), ist aber nur eine, längst nicht mehr definierende Spielart "der Kultur". Als gäbe es keinen Pop, keinen Underground, keine pädagogisch beflissene Mittelstandskultur mehr. Und dann führt er das ausgebrannte Argument ins Treffen, eine durch Steuergelder finanzierte Kunstproduktion habe gefälligst "allen" zu dienen und "nützlich" zu sein. "Kultur ist der Rahmen, in dem wir gesellschaftlich relevante Themen mit künstlerischen Mitteln verhandeln." Die "daraus resultierenden Inhalte" sollten "für alle Teile der Bevölkerung verständlich sein".

Es geht der Gegenwartskunst selbstredend nicht darum, "unverständlich" zu sein, was hätte sie davon? Jede kreative Kraft im Kunstbetrieb-ob sie sich termitisch durch dessen Höhlensysteme gräbt oder sich in der Repräsentationskultur umtreibt-ist um Kommunikation mit einem prospektiven Publikum bemüht. Im Gegenzug wäre es aberwitzig, Kulturschaffende dazu zu vergattern, verpflichtend "breitenwirksam" zu arbeiten. Die großen Werke Antonin Artauds, Anton Weberns, Marguerite Duras' und Valie Exports sind und waren nicht "für alle Teile der Bevölkerung verständlich", was der historischen Bedeutung dieser Arbeiten keinen Abbruch tut. Und eine Kulturnation, die sich nicht auch künstlerisch Sperriges leisten will, verdient diesen Namen nicht. Man kann, wenn man Kunst macht, seine Kapazitäten nicht dem sinnlosen Unterfangen widmen, auch noch all jene zu erreichen, die sich mit Kunst gar nicht befassen wollen. Die Bandbreite der Kultur, von der populären bis zur konzeptuellen, ist ohnehin enorm. Jede und jeder kann sich daran bedienen, sich bereichern und bilden (oder es bleiben lassen).Kunst wird nicht "irrelevant", weil sie schwer zu verstehen wäre oder kurzfristig schlecht "besucht" wird.

Dem westlichen Kulturbetrieb kann man dennoch vieles vorwerfen, man sollte ihm sogar mit produktiver Kritik zu Leibe rücken; denn es gibt einen real feststellbaren Relevanzverlust, aber er betrifft nicht die Kultur als Ganzes, sondern zwei nebengeordnete Aspekte: die Kulturpolitik und die Kulturkritik; die eine gibt immer öfter dem Druck durch Populismus und Budgetnot nach, die andere hat ihren Nimbus angesichts übermächtiger sozialmedialer Konkurrenz eingebüßt. Aber die politische Wirkung und die utopischen Ideen, die in der Kunst Form annehmen, sind ungebrochen. Und gerade in der Popkultur verbinden sich nicht selten Unterhaltungstaktiken mit hoher kreativer und ideologischer Ambition: Ein Beispiel für welthaltiges Entertainment ist ein Film wie "Black Panther: Wakanda Forever", der mit antirassistischem und feministischem Bildungsmaterial, das seiner Amüsierpflicht nicht widerspricht, ein adoleszentes Millionenpublikum erreicht und prägt.

Wer Kunst macht, handelt politisch, denn sie interveniert: Der deutsche Pianist Igor Levit etwa benutzt seinen Ruhm als Musiker, um gegen Antisemitismus zu agitieren und für die Integration Geflüchteter. Und wenn der anonyme Street-Artist Banksy in den Krisenzonen der Welt seine Bilder hinterlässt, lenkt er damit den Blick auf Verdrängtes. Die Einmischung ist Teil der künstlerischen Praxis; besonders kenntlich wird dies in der radikal interventionistischen Kunst, wie sie Christoph Schlingensief, inspiriert von Joseph Beuys, zeitlebens praktiziert hat. Es ist kein Zufall, dass die um Bewusstsein für die imminente Klimakatastrophe Kämpfenden ausgerechnet Kunstmuseen als zentrale Schauplätze ihres Engagements gewählt haben (auch wenn sie der Meinung sind, dass diese vor allem Orte der schöngeistigen Weltflucht seien); die fingierte Beschädigung eines Gemäldes ist ein passendes Bild für den fortschreitenden Ruin dieses Planeten, denn jedes starke Kunstwerk ist eine Welt für sich, ein angreifbarer Mikrokosmos.

Ex negativo kann man die unversehrte Relevanz der Kunst auch an der diesjährigen Documenta festmachen, die infolge von Antisemitismusvorwürfen gegen das indonesische Führungskollektiv zum Massenmedienthema wurde. Die Kunst ist ihrem Wesen nach antitotalitär, denn die Freiheit, in der sie nur entstehen kann, und der Individualismus, der in ihr zelebriert wird, stehen der Idee der Unterdrückung und der Tyrannei diametral entgegen, nachzuschlagen in Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" (1971-81).Daran ändern auch allfällige konservative Gegenkunstbewegungen nichts. Das Verhältnis von Kultur und Umsturz fasst der chinesische Künstler Ai Weiwei so zusammen: "Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein."

Die Welt in großem Stil zu ändern, ist ein vermessenes Ziel, aber jede künstlerische Äußerung verwandelt diejenigen, die sie erreicht-und sei es nur: im Geringsten. Kunst speichert und entfaltet Geschichte, macht etwas sichtbar, das mit freiem Auge nicht erkennbar ist. Und was wäre in zerrütteten Zeiten relevanter als Analysefähigkeit und Erkenntniswert?

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.