Wolfgang Kos

Wolfgang Kos erklärt das 20. Jahrhundert in 99 Songs

Der Kulturhistoriker Wolfgang Kos erzählt anhand von 99 Songs das 20. Jahrhundert - ein Wahnsinnsprojekt.

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Der Historiker sitzt, in Cordhose und Flanellhemd, auf einer Couch aus Stahlrohr und Polster, zwischen CD- und Bücherregal, Stereoanlage und Schreibtisch, durch das offene Fenster dringen Sonnenstrahlen, Feinstaub und Fiakergeklapper. Die Assoziationen galoppieren. Nationalfeiertag bei Wolfgang Kos, legendärer Radiojournalist, ehemaliger Direktor des Wien Museums, eminenter Pophistoriker. Es geht um Kos’ jüngstes Buch, um "99 Songs. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts“, das den Wahnwitz dieses Projekts schon im Titel trägt. Zwischen Lehárs "Lustiger Witwe“ (Nr. 1) und Youssou N’Dours "Birima“ (Nr. 99) wiegt Kos das politische Gewicht populärer Musikstücke, nimmt "Die Arbeiter von Wien“ (Nr. 8) zur Hand und Billie Holidays "Strange Fruit“ (Nr. 20), Dylan natürlich ("The Times They Are A-Changing“, Nr. 43, "Like A Rolling Stone“, Nr. 49, "Mississippi“, Nr. 98) und Bowie ("Amsterdam“, Nr. 45, "Heroes“, Nr. 79), Adriano Celentano ("Azzurro“ Nr. 63) und N.W.A. ("Fuck Tha Police“, Nr. 93), erzählt Geschichten über Lieder und Interpreten, vor allem aber über deren Zeit und Zeitgeist, berichtet anhand von Fritz Löhner-Bedas Klamaukhit "Ausgerechnet Bananen!“ (Nr. 7) über Jazz und neue Kühltechniken, und jagt einem Schauer über den Rücken, wenn er ein paar Seiten weiter wieder auf den 1942 in Auschwitz ermordeten Wiener Schlagertexter und Operettenlibrettisten kommt - als Autor des "Buchenwaldlieds“ (Nr. 19): "O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, / weil du mein Schicksal bist.“

"99 Songs“ macht sich auf die Suche nach einem kollektiven Bewusstsein, das sich in der Populärkultur äußert oder in ihr erst richtig zu sich kommt; nach Musikstücken, die den jeweiligen Geist der Zeit spiegeln oder ihn erst ermöglichen. Nach Liedern als historischen Akteuren. Das wird an vielen Stellen schlüssig, an manchen weniger, scheitert mitunter an der allzu knappen Form des Zwei- bis Vier-Seiten-Essays, hebt anderswo völlig ab. An Zusammenhängen herrscht ja nun wirklich kein Mangel. Kos ist ein Meister des ausschweifenden Erzählens. Dieses Buch ist purer Irrsinn.

"Songs können ein Klima erzeugen"

"Der zufällige Sommerhit interessiert hier nicht“, sagt Kos. "Die Grundidee wäre: Songs, die die Welt verändert haben. Tatsächlich gibt es Songs, die etwas antizipieren, einen Stimmungswandel spüren, eine Forderung vorwegnehmen und so vom Rand ins Zentrum finden. ‚We Shall Overcome‘ ist das klassische Beispiel: ein Streiklied amerikanischer Gewerkschafter, verbreitet in Volksbildungsheimen, von einer Handvoll Funktionären gesungen, dann die Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Solche Lieder schleichen sich herein. Sie gehören niemandem. Songs können ein Klima erzeugen, die Aufnahmebereitschaft wecken.“

Im Lauf des Gesprächs wird die Möglichkeit eines ganz anderen Buches offenkundig. Ein Buch, das nur einen einzigen Song ins Zentrum stellt, es könnte eigentlich fast jeder sein, von dem aus Kos das Jahrhundert in den Blick nehmen könnte. Alles hängt mit allem zusammen, ein Popsong ist keine Insel. Erste Frage (von insgesamt drei; das Gespräch dauert eineinhalb Stunden): Warum ist ABBAs "Dancing Queen“ (Nr. 75), trotz erkennbarer Skepsis des Autors, im Buch? Die Antwort endet knapp nach Minute 25. Kos hat ausgeholt, in Wien begonnen ("Meinen ersten Beitrag fürs Radio 1968 habe ich verpasst, das Manuskript wurde gesendet, ich war für die Redaktion nicht erreichbar, da beim Bundesheer“), ist über Teenagerkulturen in London bei der Kunstgeschichte gelandet und natürlich auch im Freizeitpark ("ABBA erreichten den Status von Gustav Klimt: völlig abgelöst von jedem Ursprung, purer Warencharakter, eine Weltmarke. ABBA stehen für einen modernen Gedanken: Form als Inhalt. Perfektion des Handwerks zum Juxdesign. Sie funktionieren wie ein gutes Karussell: sechsfache Absicherung, damit niemand herunterfällt. Das ist das Wichtigste. Und dann können die verrücktesten Sachen passieren. Fröhlichkeit auf Knopfdruck“). Weiters hat Kos erklärt, wie die angelsächsische Popkultur-Hegemonie entstanden und wieder vergangen ist, was das für die französischen Chansonniers der 1970er-Jahre bedeutete, um schließlich, Minute 25, in Schweden zu landen: "Der Kulturimperialismus bröselt. Und plötzlich ist Skandinavien ein Hotspot der Pop-Produktion. Wie die Grazer ihren Auto-Cluster haben, haben die Schweden ihren Post-Disco-Cluster. Und ABBA waren die Ersten. In the long run sind ABBA also sehr wohl interessant. Der Hauptgrund aber, warum ich die damals so schrecklich fand, war: Es war nicht zu erklären, warum die so grässlich angezogen waren. Sie waren die Geisterfahrer der 70er-Mode.“

Wolfgang Kos: 99 Songs. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Verlag Christian Brandstätter. 320 S., 39,90 EUR.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.