Wurden Sie von Politikern schon "Arschloch" genannt, Herr Köhlmeier?

Der Vorarlberger Autor Michael Köhlmeier über „Indianer“-Debatten und „Moralpolizisten“, seine Lust auf Stammtisch und seine Wut über die Cancel Culture.

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Seinem ohnehin beeindruckend umfangreichen Werk („Spielplatz der Helden“, „Abendland“) fügt Michael Köhlmeier, 73, in schöner Regelmäßigkeit Neues hinzu. Gerade erst ist der 1000-seitige Romanstreich „Matou“ (2021) erschienen, in dem ein Kater seine Lebensgeschichte über Jahrhunderte hinweg erzählt, da schickt Köhlmeier schon seinen neuen Roman „Frankie“ hinterher, die Geschichte des Titelhelden, der in feiner Ernsthaftigkeit von einer abgründigen Episode aus seinem 14-jährigen Leben berichtet. Eine Jugendgeschichte mit enigmatischem Helden, im selben Moment abstoßend und faszinierend. Gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer, lebt und arbeitet Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems und am Wiener Naschmarkt, wo der Autor profil auf ein Gespräch und ein schnelles Gitarrenkonzert einlud.  

Herr Köhlmeier, in „Frankie“ entwerfen Sie eine kleine Phänomenologie des Arschlochseins. Was macht ein solches aus?
Köhlmeier
Der Großvater im Roman sagt, ein typisches Arschloch sei, wer ein anderes Arschloch erkenne – was wiederum ein gängiger Arschloch-Sager des Großvaters ist. Die Frage in „Frankie“ lautet: Darf der 14-jährige Enkel der Faszination des Großvaters erliegen? Biblisch ausgedrückt: Der Opa ist die Schlange, was alles andere als ein angenehmer Umgang ist. 
Eva im Paradies weiß um das Abgründige der Schlange Bescheid – und lässt sich dennoch verführen. 
Köhlmeier
Mutmaßlich sind alle großen Verführer Arschlöcher. Shakespeare warf in „Ende gut, alles gut“ die grundsätzliche Frage auf: Hat auch ein Arschloch das demokratische Recht, gegen jedes bessere Wissen ein Arschloch zu sein? Ja, sagt Shakespeare. In „Ende gut, alles gut“ liebt eine wunderbare Frau einen Mann – was dieser arschlochmäßig ignoriert. 
Lemmy Kilmister stellte einst die „Lemmy-Regel“ auf: Acht von zehn Leuten, die er pro Tag treffe, so der Motörhead-Sänger, seien Idioten. Können Sie damit was anfangen?
Köhlmeier
Man kann es auch umgekehrt sehen. Wie im Witz vom Autofahrer, der auf der Autobahn auf der falschen Spur unterwegs ist und im Autoradio die Warnung hört: „Achtung, es kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen!“ – Darauf der Mann: „Einer? Es sind nur Geisterfahrer unterwegs!“ Der Verdacht liegt nahe, dass jemand, der alle als Idioten betrachtet, vielleicht selbst ein solcher ist. 
Sie lieferten sich öffentliche Fehden mit der FPÖ, 2018 kritisierte die ÖVP Ihre Rede bei einer NS-Gedenkveranstaltung scharf. Wurden Sie von Politikern schon „Arschloch“ genannt?
Köhlmeier
Das hoffe ich doch sehr! In Wien begegnet man mir auf der Straße zuvorkommend. In Vorarlberg konnte es dagegen geschehen, dass ich eine Bäckerei betrat und, bevor ich überhaupt den Regenschirm zusammenklappen konnte, angeblafft wurde: „Kannst nicht ‚Grüß Gott!‘ sagen, wenn du reinkommst?“ Die unterschiedlichen Reaktionen haben weniger mit dem Tatbestand meines Schreibens, mehr mit meiner Person zu tun. 
Lesen Sie Postings?
Köhlmeier
Inzwischen nicht mehr, weil ich Dinge lesen musste, die zutiefst verletzend waren. Die Diffamierungen liefen oft auf das Geifern hinaus, dass Autorinnen und Autoren von ihrer Arbeit nicht leben könnten und deshalb bezahlte Schreibknechte der Politik seien. 
Der Hass auf die Eliten scheint auch in Österreich die Regel zu sein.
Köhlmeier
Innenminister Karner äußerte in der Pandemie den Satz, dass auf der einen Seite die „Wissenschaft“ stehe, auf der anderen die „Tatsachen“. Das ist der dümmste Spruch, den man sich vorstellen kann, der zugleich vielsagend ist: Tatsachen entspringen bekanntlich den Wissenschaften. Für Karner entsprechen die „Tatsachen“ jedoch dem gesunden Menschenverstand, auf den wir uns angesichts einer hochkomplexen Welt und Wirklichkeit nicht mehr verlassen können. Der viel beschworene Riss in der Gesellschaft klafft nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen den sogenannten „Intellektuellen“ und jenen, die sich nicht dazuzählen. 
Als Schriftsteller werden Sie unweigerlich zu den „Intellektuellen“ gezählt. 
Köhlmeier
Ich wandle auf unsicherem Terrain, sobald Theoretisches von mir erwartet wird. Einen Essay schreiben? Um Gottes willen! Als guter Witze-Erzähler fühle ich mich übrigens sauwohl am Stammtisch. 
Wie würden Sie die Intellektuellen-Distanz des „großen Lümmels“ analysieren, wie Heinrich Heine das Volk genannt hat?
Köhlmeier
Am schlimmsten empfindet es der große Lümmel, wenn einer von der anderen Seite sagt, man müsse Verständnis für ihn zeigen. Dann wird er zum „Fall“, mit dem man l-a-n-g-s-a-m sprechen muss! Als Schriftsteller bin ich der Sonderfall. Ich kann die Privilegien und den guten Ruf einer Figur genießen, von der man meint, sie wisse mehr – was überhaupt nicht stimmt. Zur Politik habe ich mich immer als Bürger geäußert, nie als Autor. Wie jeder andere denke ich über die Schönheit dieses Landes und die Verlogenheit der Politik nach.

„Im allerletzten Augenblick würde ich flehen: Gib mir noch eine Stunde, und sei’s mit dem größten Idioten!“

Jüngst nahmen Sie den Regisseur Ulrich Seidl in Schutz, dem vorgeworfen wurde, bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Sparta“ seien minderjährige Laiendarsteller Gewalt, Alkoholismus und Nacktheit ausgesetzt worden – was wiederum gegen Sie gerichtete empörte Reaktionen innerhalb des links-liberalen Milieus nach sich zog. Haben Sie die besondere Gabe, es sich mit allen zu verscherzen?
Köhlmeier
Dieses Milieu hat viel mit jenen am Stammtisch gemeinsam, die über Seidl lästern, ohne Seidl zu kennen. Der Stammtisch poltert, während die links-liberale Schickeria schlicht kunstfeindlich ist. Diese Form der Kunstfeindlichkeit registriere ich seit geraumer Zeit mit Wut. Wer unbedingt glaubt, er müsse Cancel Culture betreiben und jede kulturelle Aneignung ächten, hasst jede Kunst und jede kulturelle Äußerung. Kultur ist eine einzige große Aneignung, mit Ausnahme der Nazi-Kunst, die es bekanntermaßen ohne jede Aneignung versucht hat. Der ganze Picasso, alle Impressionisten wären zu kübeln, dazu die amerikanische Volksmusik! Wenn mich so jemand hasst, empfinde ich dieselbe Genugtuung, wie wenn mich ein FPÖler verabscheut. 
In „Frankie“ schreiben Sie von „Indianern“. Dürfen Sie das überhaupt? 
Köhlmeier
Im Roman rede nicht ich, sondern Frank. So weit kommt es noch, dass ich durch das Buch hindurch meiner Figur vorschreibe, was sie zu sagen hat! Selbst wenn sie „Neger“ sagen würde! Dann würde ich entgegnen: „Das tut mir sehr leid. Aber Frankie spricht nun mal so.“ 
Gemeinsam mit dem Gitarristen Hans Theessink veranstalten Sie Abende über „Westernhelden“. Kam es zu „Indianer“-Notlagen?
Köhlmeier
Auf diese Veranstaltungen bereitete ich mich ein Jahr lang vor. Nach einem dieser Abende beschimpfte mich eine ältere Dame: „Nie wieder werde ich von Ihnen etwas lesen!“ Erstaunt fragte ich: „War ich denn so schlecht?“ Darauf sie: „Nein, das nicht. Aber sie haben das Wort verwendet.“ Darauf stellte ich ihr einige Fragen: „Wie viele Stämme kennen Sie? Die Apachen gelten nicht. Wie viele indianische Persönlichkeiten kennen Sie? Winnetou gilt nicht. Wie vielen Sprachen sind Ihnen bekannt?“ Die Antwort war immer: keine. Diese Frau wusste nichts, sie hatte sich nie die Mühe gemacht, sich zu erkundigen. Sie wusste nur das eine: Man darf nicht „Indianer“ sagen. Das verachte ich zutiefst, dieses: Wenn ich auch nichts habe, bin ich zumindest im Recht. 
Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte auch das N-Wort aus Büchern nicht verbannt werden?
Köhlmeier
Der von mir hochverehrte Joseph Conrad schrieb den Roman „The Nigger of the ‚Narcissus‘“. In einer neuen deutschen Übersetzung heißt das Buch nun „Der Niemand von der ‚Narcissus‘“. Zuvor wurde im Schimpfwort „Nigger“ zumindest eine Person anerkannt, inzwischen wurde sie ausgelöscht, weil man das im Heute nicht mehr sagen könne. Ich warte darauf, dass dieselben Moralpolizisten die „I Have a Dream“-Rede Martin Luther Kings umschreiben werden, weil er darin von „Negros“ spricht. King war Rassist! Sofort ausgliedern! 
Die notorische Gewissensfrage der Gegenwart lautet: Darf ich das überhaupt?
Köhlmeier
Darf die Kunst auch über das Gesetz hinaus? So lautete, beginnend in den 1960er-Jahren, die zentrale Frage. Inzwischen ist das Gesetz bedeutend liberaler als die Diskussionen innerhalb der Moralpolizei. Die Kunst ist und bleibt frei.  
Der sonntägliche „Tatort“, den Frankie und seine Mutter anschauen, scheint eine der letzten Bastionen der einwandfreien Unterscheidung von Gut und Böse zu sein.
Köhlmeier
Eine Funktion des Mythos ist es, Archetypisches mit Banalem zu verbinden. In der Bibel verliert der Mensch seine Unschuld, weil er vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse kostet. Erst jetzt kann der Mensch unterscheiden. Ein Löwe, der ein Lamm zerreißt, hat keine Sekunde lang ein schlechtes Gewissen. Der Kriminalroman knüpft an diesen Mythos an: Die Klarheit zwischen Gut und Böse wird aufgelöst, der letzte weiße Fleck des Menschen, seine Seele, kolonialisiert. Freud fügte die finale narzisstische Kränkung hinzu, indem er uns ausrichtete, was so alles in unseren Seelen los sei und dass wir nicht Herr darüber sind.
Die menschliche Moral fiel nicht vom Himmel, sondern war schon immer hausgemacht?
Köhlmeier
Der Mensch hat von den Göttern alles Mögliche bekommen, nur eines sicher nicht: die Moral. Im antiken Mythos wurden die Menschen deshalb auch nicht von Zeus gemacht, weil sie dann völlig amoralische Wesen wären. Der Feuerbringer Prometheus – der Vorausdenkende – schuf uns, also der Titan, der voraussah und wusste: Wenn meine Kreaturen keine Moral haben, dann werden sie sich gegenseitig auffressen. Prometheus schuf uns als lernfähige Versager, denen er die Moral überließ. 
Vor gut 40 Jahren veröffentlichten Sie Ihren ersten Roman. Macht Literatur das Leben leichter?
Köhlmeier
Schreiben ist eine Tätigkeit, die ich über alles liebe, die mir die Möglichkeit eröffnet, mir neben allem, was ist, alles vorzustellen, was  sein könnte. 
Können Sie sich erinnern, warum Sie Schriftsteller werden wollten? 
Köhlmeier
Sogar an den Nachmittag vor Jahrzehnten, als ich in mir den Beschluss fasste! Damals schrieb ich im Schülerheim meine erste Geschichte, das Abenteuer von einem Taucher, der in einer Taucherglocke ins Meer gleitet. Ich war als Zehnjähriger wundersam erregt über den Zustand, mir mit Bleistift und Papier eine Welt erschaffen zu können!  Manchmal denke ich mir, diese naive Erregung hält bis heute an. 
Einer Ihrer Lieblingswitze geht so: Es klingelt an der Tür. Der Mann macht auf und sieht niemanden. Er schaut nach unten. Da steht ein kleiner Tod mit Sense und sagt: „Um Gottes willen, nicht erschrecken! Ich komme nur, um den Hamster zu holen!“ Was, wenn der große Tod klopft?
Köhlmeier
Keine Ahnung. Seit unsere Tochter Paula starb, habe ich zum Tod ein anderes Verhältnis. Kurz nach Paulas Tod dachte ich mir, das sei deshalb, weil ich damals mit gestorben bin. Der Tod ist seither ein dunkler Freund. Das Sterben ist der wahre Skandal, nicht der Tod. 
Der Sänger Udo Jürgens feixte einst, er würde nicht mehr auferstehen wollen, um die ganzen üblen Typen nicht mehr sehen zu müssen. 
Köhlmeier
Ich halte es eher mit Christoph Schlingensief, der meinte: Die größten Arschlöcher würde er ertragen, wenn er nur noch leben könnte. Im allerletzten Augenblick würde ich flehen: Gib mir noch eine Stunde, und sei’s mit dem größten Idioten!
Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.