Cannes

Zu allem fähig: Eloge an die Schauspielerin Sandra Hüller

Sie brilliert in zwei Favoritenfilmen dieses Festivals: Das eindringliche Spiel der Charakterdarstellerin Sandra Hüller fiel in Cannes gleich doppelt auf.

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Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller, 45, kann etwas, das im europäischen Film nur wenige beherrschen: Sie blickt unerschrocken in die finstersten Abgründe der menschlichen Psyche, scheint vollkommen zu ruhen in den hochkomplexen Figuren, die sie darstellt. Die Französin Justine Triet, die Hüller zum Zentrum ihres – nun in Cannes uraufgeführten – Gerichtssaaldramas „Anatomy of a Fall“ gemacht hat, kreist um eine Frau, die nach dem tödlichen Sturz ihres Ehemanns aus dem Dachgeschoß jenes entlegenen Hauses, das sie bewohnten, als Täterin in Frage kommt. Oder war es doch ein Unfall, gar ein Suizid?

Triet beschreibt Hüller so: Sie arbeite „zugleich sehr technisch und höchst spontan“. Ihre Performances hätten etwas „Dokumentarisches“, das sich „nicht fabriziert, nicht raffiniert oder ausgeklügelt“ anfühle. Man kann Hüller auch ihre inzwischen jahrzehntelange Bühnenerfahrung anmerken, sie war ab 2001 Ensemblemitglied am Schauspiel Leipzig, am Theater Basel und an den Münchner Kammerspielen, seit 2018 ist sie am Schauspielhaus Bochum engagiert. Daneben gehört sie aber, seit bald 20 Jahren, auch zu den fixen Größen des deutschsprachigen Autorenfilms, hat Werke von Maria Speth, Hans-Christian Schmid. Jan Svhomburg und Jessica Hausner bereichert.

Den Sprung ins internationale Kino hat sie nach ihrer Hauptrolle in Maren Ades gefeierter Beziehungsstudie „Toni Erdmann“ (2016) vollzogen: In Triest „Sibyl“ und Alice Winocours „Proxima“ war sie 2019 zu sehen – und nun auch, ebenfalls im Wettbewerbsprogramm des Festivals in Cannes, in Jonathan Glazers Holocaust-Vision „The Zone of Interest“. Als Hedwig Höß, die Frau des NS-Lagerkommandanten in Auschwitz-Birkenau, lässt Sandra Hüller mit erschreckender Selbstverständlichkeit und eisigem Understatement in die kaum fassbare Fühllosigkeit einer die Massenvernichtung in der Todeszone nebenan ignorierenden Frau blicken. Es kann gut sein, dass die 76. Filmfestspiele in Cannes der noch unvollendeten Weltkarriere dieser Schauspielerin die nötige Schubkraft verleihen werden.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.