Nachruf

Zum Tod von Jean-Luc Godard: Im Kosmos verirrt

Jean-Luc Godard hat mit seinen Werken nicht nur die Filmgeschichte geprägt, sondern auch das Denken über Kunst, Kino, Politik, Arbeit, Liebe und Macht fundamental verändert. Nun ist er 91-jährig verstorben.

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Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrzehnten in Wellen zu denken gelernt, in Ausbreitungsszenarien und Flutbewegungen, die von den Tsunami-Katastrophen bis zur Viruskrise reichen. Eine Gesellschaft in Schockstarre bereitet sich während der siebenten schon auf die achte Welle vor, eine Nouvelle Vague sehnt sich heute niemand mehr herbei. Das Denken und die Kunst des Filmemachers Jean-Luc Godard aber verliefen seit jeher wellenförmig, Erstarrungszustände konnte er sich folgerichtig vom Leib halten. Auf Instagram erschien Godard im April 2020 als verquerer Geist der Filmgeschichte – im Hochformat einer Smartphone-Aufnahme, mit zittriger Stimme, aber hellwachem Geist, im grünen Pullunder, mit einer extradicken Zigarre: Auf Einladung Lionel Baiers, des Filmabteilungsleiters an der Kunsthochschule Lausanne (ECAL), gab er da ein gut anderthalbstündiges Live-Interview, das in gewohnt assoziativer Manier Malerei, Fernsehen und Schauspiel, Sokrates und Freud, Palästina und Corona berührte. In seinem 90. Lebensjahr beanspruchte Godard in bester Laune seinen Platz in den Sozialen Medien, als wäre in dieser Aktion irgendwo eine sehr gute Pointe versteckt.

Nun ist Godard wenige Wochen vor seinem 92. Geburtstag in der Schweiz verstorben, in seinem langjährigen Heimatort Rolle, einer 6000-Seelen-Gemeinde am Genfer See. Vor mehr als sieben Jahrtzehnten waren seine frühesten filmkritischen Texte bereits erschienen; die Studien, die er als Teenager auf eigene Faust in den Pariser Cinéclubs absolviert hatte, waren entscheidend für die Wahl seines Metiers. Ab 1950 trat er als Kinodenker, als Kritiker und Nebendarsteller im Kino in Erscheinung, ab 1954 auch als Kurzfilmregisseur. Er erlebte und begleitete über die Jahrzehnte alle künstlerischen, technischen und politischen Wandlungen seines Mediums. Und er wurde dabei immer eigenwilliger, immer abstrakter. Er blieb ethisch und ästhetisch mobil, entwickelte seinen Umgang mit den Bewegtbildmedien wie besessen bis ins hohe Alter weiter – und marginalisierte sich dabei absichtsvoll selbst. Er begann als eine Art Popstar und entrückte zusehends ins Feld des Legendären, des Unerklär- und Ungreifbaren.

Godards spezielle, zwischen Politisierung und Romantisierung changierende Cinephilie ging auf seine Bekanntschaft mit Henri Langlois, dem Mitbegründer der Pariser Cinemathèque Française, und mit dem Filmtheoretiker André Bazin zurück, der 1951 die Zeitschrift „Cahiers du cinéma“ initiierte. Sie wurde zum Zentralorgan der Nouvelle Vague, in dem nicht nur Godard schrieb, sondern auch all die anderen jungen Wilden des neuen französischen Kinos theoretisieren und das Kino der Altvorderen mit viel Klugheit, Pathos und Selbstüberhöhung attackieren durften: Eric Rohmer, Jacques Rivette, François Truffaut und Claude Chabrol.

Die Nervosität, die Zeitzeugen dem kunst- und theoriehungrigen jungen Godard attestierten, prägte auch dessen Spielfilmdebüt, das er mit Ende 20, fieberhaft und ungeduldig, außer Atem eben, improvisierte. Mit Martial Solals jazzigem Soundtrack und der Comics-Seite einer Boulevardzeitung beginnt „A bout de souffle“ (1960), im Tonfall des Lässigen und Trivialen. „Alles in allem bin ich ein Arschloch“, erklärt Jean-Paul Belmondo ungebeten aus dem Off, ehe er wenige Sekunden später selbst ins Bild rückt, den Gangsterhut so tief über die Augen gezogen, dass er kaum noch etwas sehen kann, eine Zigarette zwischen den Lippen. Alles geht in Godards Erstling, jeder freche Verstoß gegen die alte Filmgrammatik ist hier legitim, sogar erwünscht. Man spricht direkt in die Kamera, freut sich über Jump-Cuts und Anschlussfehler, solange nur unentwegt darauf hingewiesen wird, dass der sogenannte Realismus im Kino eine höchst artifizielle Angelegenheit ist (und trotzdem sehr viel Spaß machen kann): ein Befreiungsschlag. Raoul Coutard, an der Reportage geschult, agierte in den Straßen von Marseille und Paris mit radikal beweglicher, für alles offener Kamera, und Godard collagierte Erzählmuster, die eigentlich nicht zueinander gehörten.

In „Le mépris“ brachte er es 1964 zuwege, einen Brigitte-Bardot-Film zu einer Studie der Eigenheiten seines Mediums umzubauen, ein schwelgerisch orchestriertes Beziehungsdrama mit filmtheoretischen Exkursen und avancierten Inside-Jokes zu verschmelzen. Auch mit Filmen wie „Une femme est une femme“ (1961) und „Pierrot le fou“ (1965) erwies sich Godard als begnadeter Kino-Kolorist, seine primärfarbenen Inszenierungen wurden zur unverkennbaren Signatur. Doch das Korsett der Nouvelle Vague war Godard schon Mitte der 1960er-Jahre zu eng, auch weil die Neue Welle des französischen Kinos so hell und aufgeregt in die Welt zu strahlen begonnen hatte. Das Folterdrama „Le petit soldat“ (1960) drehte er nicht nur in Reaktion auf die laufenden Ereignisse im Algerienkrieg, sondern auch, weil man der Nouvelle Vague unterstellt hatte, sie zeige ohnehin nur Menschen, die in Betten herumliegen. Er setzte, während alle Welt von ihm nur Pop, Sex und Zeitgeist erwartete, auf politischen Schock und ideologische Wirrungen. Ein erster Endpunkt war, 12 oder 13 Filme später, bald erreicht: „Week-End(1967), Godards aktionistische Abrechnung mit Konsumismus und sozialer Idiotie nannte er einen „im Kosmos verirrten, auf dem Schrott gefundenen Film“. Tatsächlich ist „Week-End“ ein surrealistisches Wald- und Wiesendrama, in dem Blechlawinen, sinnlose Gewalt und blutige Unfälle von zynisch gesetzter Hochkultur flankiert werden. Das Blut, das aus allen Körpern dringt, klebt wie aquarelliert in den Gesichtern der Menschen: Es sind die letzten Aufzeichnungen einer Todesgesellschaft.

Danach tauchte Godard in den linksradikalen Kunst-Untergrund ab. Mit dem militanten Kritiker Jean-Pierre Gorin gründete er, auch im Bann der Ereignisse im Pariser Mai 1968, die marxistisch-leninistische Groupe Dziga Vertov und begann, „kollektiv“ organisierte Agitprop-Filme herzustellen. Mit Anne-Marie Miéville, die bis heute an seiner Seite arbeitet, erschloss er sich Mitte der 1970er-Jahre die (heute vorsintflutlich anmutende) Videotechnik als Instrument radikal persönlicher Filmarbeit. Die Video-Magnetbänder, die Filmgeschichte plötzlich für den Heimgebrauch verfügbar machten, ebneten Godard den Weg zu seinem Magnum Opus, den „Histoire(s) du cinéma“ (1988-98). Dieses kulturarchäologische und gesamt-geistesgeschichtliche Unternehmen stellt den hochambitionierten Versuch dar, Kino- und Weltgeschichte über ein dichtes Netz aus Filmsplittern, Musikfragmenten und Zitaten aus Literatur und Philosophie gleichsam komprimiert und hochdruckerhitzt in zeitloser Gültigkeit erfahrbar zu machen. Die Überforderung ist für Godard der einzig sinnvolle Weg. Vor den Bildern des absoluten Grauens des 20. und 21. Jahrhunderts verschließt Godard die Augen nicht, er verschneidet Krieg und Leichenberge mit Meisterwerken des Kinos, der Malerei, der Klangkunst, der Poesie. Es gehe dabei immer um die Frage, hat Michael Althen geschrieben, wie sich die Kunst zu den Schrecken der Realität verhält.

Es gibt niemanden, der das Kino so sehr (und dermaßen vielgestaltig) neu definiert hat wie Jean-Luc Godard. Kultische Verehrung erschien, bei allem Respekt, dennoch fehl am Platz: Weltanschaulich war Godard keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Seine Israel-Aversion beispielsweise, die auf der Parteinahme für das Existenzrecht Palästinas gründete und legitime Regierungskritik bisweilen überschritt (er nannte sich „antizionistisch“), mutete ebenso überschießend an wie der Sexismus, der sein Frauenbild in manchen Fällen kontaminierte. Godard war ein „anstößiger“ Künstler, im Guten wie im Schlechten. Im hohen Alter hatte er sich in den ambivalenten Ruf, den er genoss, vergnügt zurückgezogen. „Aus einem Hipster avant la lettre, als der er 1960 erscheinen konnte“, schrieb Bert Rebhandl in seinem Buch zur Arbeit des Filmemachers, „ist ein Eremit geworden.“ Aus dem Mainstream-Betrieb hatte er sich früh ausgeklinkt: Godards Werk verwandelte sich bereits in den 1980er-Jahren in eine Serie von „Meditationen“, seine späten Werke wurden zu Kontemplationsobjekten für Eingeweihte. Sein letztes großes Werk, „Le livre d’image“, verblüffte 2018 mit Rätselbildern – texten und -klängen, mit assoziativen Collagen aus Filmclips, Nachrichtenbildern, Terrorvideos und iPhone-Aufzeichnungen. Ein kryptischer letzter Vorwurf an eine die großen Fragen fahrlässig verdrängende Menschheit.

Jean-Luc Godards Ableben vollendet einen wesentlichen Abschnitt der europäischen Filmgeschichte. Das Kino nach Godard beginnt heute: Es wird dem großen Alten mit dem wunderlichen Humor und all diesem Welt- und Kunstwissen Entscheidendes zu verdanken haben.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.