Robert Treichler

Asyl, ganz ohne Gefühl

ÖVP-Generalsekretärin Sachslehner sagt, sie halte nichts von emotionalen Debatten. Bitte sehr.

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Mitgefühl, Anteilnahme, Nächstenliebe  – Emotionen hat man, oder man hat sie nicht. Es lässt sich schwer darüber streiten. Laura Sachslehner, die Generalsekretärin der ÖVP, wünscht sich eine Debatte, in der Gefühle nicht im Weg stehen, also lassen wir diese einmal kurz beiseite.

Sachslehner zog jede Menge Ärger auf sich, weil sie in einem Posting auf Twitter Folgendes beklagte: „Insgesamt 16.000 Asylansuchen wurden heuer bereits gestellt. Die allermeisten Asylwerber stammen aus Afghanistan und Syrien. Damit leidet Österreich an der pro Kopf zweithöchsten Belastung durch Asylanträge in der EU.“ Und sie fügte hinzu: „Zwischen den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine und allen anderen Migranten, die meist aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich wollen, muss unterschieden werden.“ Sagen wir es emotionslos: Sachslehner irrt mehrfach.

Dass heuer bisher 16.000 Asylanträge gestellt wurden und Afghanistan und Syrien bei den Nationalitäten an der Spitze liegen, ist korrekt. Aber wie kommt die Generalsekretärin zu der Behauptung, dass im Gegensatz zu den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine die meisten anderen Migranten aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich kämen? Laut der Statistik des Innenministeriums wurden in diesem Jahr bisher 5722 negative Asylentscheidungen gefällt. Dem gegenüber stehen 6152 Entscheidungen, bei denen Betroffenen entweder Asyl zuerkannt wurde oder „subsidiärer Schutz“, also ein Aufenthaltsrecht, weil den Betreffenden im Heimatland Gefahr für Leben oder Gesundheit droht. Ein großer Teil der Migranten kommt also – amtlich bestätigt – wegen Verfolgung und Lebensgefahr zu uns.

 Werte sind unteilbar, sagt der Westen zum Rest der Welt. Sind sie das?, fragt der Rest der Welt skeptisch.

Weiters nennt Sachslehner Asylwerber aus Afghanistan und Syrien eine „Belastung“. Der Begriff ist emotional und lenkt vom Kern der Sache ab: Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Afghanistan und Syrien ist desaströs, nachzulesen in den monatlichen Berichten des UN-Sicherheitsrates. Asylwerber aus Afghanistan und Syrien sind hier, weil sie ein gesetzlich verankertes Recht in Anspruch nehmen, nämlich das Asylrecht.

Prinzipielle Gleichbehandlung hat nichts mit Emotionen zu tun, sondern mit Grundsätzen. Unser Verantwortungsbewusstsein für ein europäisches Land in Not mag größer sein, aber wir können die Verantwortung für außereuropäische Menschen in ähnlicher Not nicht abstreifen und durch den Ruf nach besserem Grenzschutz ersetzen.

Warum eigentlich nicht? Wegen störender Emotionen? Nein, wegen unserer Werte. Mit denen machen wir – der Westen – gerade jetzt wieder einmal Geopolitik. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen über eine Resolution ab, mit der Russland verurteilt wurde. Die westliche Wertegemeinschaft rief alle Staaten dazu auf, mit Ja zu stimmen und pochte auf die globale Solidarität. Einige Staaten, vor allem aus Afrika, enthielten sich dennoch. Eines ihrer Argumente lautete: Der Westen agiere mit Doppelmoral. Er fordere von Afrika Solidarität im Fall der Ukraine ein; wenn es jedoch zum Beispiel um Flüchtlinge gehe, unterscheide Europa deutlich zwischen erwünschten (z. B. ukrainischen) und unerwünschten (z. B. afrikanischen oder muslimischen) Personengruppen.

Werte sind unteilbar, sagt der Westen zum Rest der Welt. Ist das so?, fragt der Rest der Welt skeptisch. Tatsächlich variiert die Anwendung der Werte, und die Behandlung von Flüchtlingen ist ein deutliches Beispiel: Nicht nur Afghanen, auch Ukrainer reisen über sichere Drittländer nach Österreich. Bei den einen ist es ein Abschiebungsgrund, bei den anderen nicht. Und während Innenminister gern sichere Flecken in Afghanistan ausmachen, in die man Migranten abschieben könnte, würden sie das in der Ukraine nie tun. Schließlich: Wäre es vorstellbar, dass EU-Staaten Rettungsschiffen mit Christen an Bord das Einlaufen in den Hafen verweigern, so wie sie das mit afrikanischen Bootsflüchtlingen tun?

Wir wollen, dass afrikanische und asiatische Länder für einen Krieg in Europa Verantwortung zeigen, der aus ihrer Sicht so weit weg ist wie für uns der Terror der Shabaab-Milizen, der somalische Flüchtlinge nach Europa treibt. Globales Verantwortungsbewusstsein endet nicht an der Mittelmeerküste.

In einem Punkt hat Laura Sachslehner recht: Österreich ist derzeit – gerechnet auf die Bevölkerungszahl – stärker als die meisten anderen EU-Länder von Fluchtbewegungen betroffen. Eine Zeit lang war Italien Hauptzielort, dann wieder Griechenland, immer wieder Deutschland und Schweden. Für dieses Problem gäbe es eine recht einfache Lösung, nämlich eine Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU nach einem vereinbarten Schlüssel. Dagegen jedoch stemmt sich die ÖVP seit Langem, zuletzt vergangenen Donnerstag, als Frankreich einen entsprechenden Vorschlag machte.

Rational ist das schwer erklärbar, da muss wohl eine Emotion dahinterstecken. Und die wollten wir ja außer Acht lassen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur