Christian Rainer: Das lief falsch
In diesen Tagen wird in Frankreich gewählt. Ein Thema hat den Wahlkampf dominiert, den Aufstieg von Marine Le Pen – und damit die Möglichkeit eröffnet, dass sich die Europäische Union mit einem lauten Kracher in ihre ursprünglichen Teile zerlegt: Ausländer, deren Zuzug, deren Vorhandensein. Migration – das ist eines von drei Themen, bei denen Generationen von Politikern jene Fehleinschätzungen trafen, die Europa in die aktuelle Lage bugsiert haben. Die erste Fehleinschätzung hat auch den Brexit möglich gemacht, sie hob Norbert Hofer beinahe ins höchste Amt, das die Republik Österreich zu vergeben hat. In den USA hat die Polemik gegen echte Latinos sowie gegen imaginäre Araber Donald Trump ins Weiße Haus geführt. Im zulässig expansiven Sinn beruhen auch die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten auf einer Ausländerfrage: Hier sind es unterschiedliche Sippen, Völker, Religionen, die nicht in derselben Gebietskörperschaft unter einem gemeinsamen Regime leben wollen.
Der Irrtum bestand einerseits darin, dass vermutet wurde, die eingesessene Bevölkerung besitze genügend Toleranz, wenn nicht gar ein innewohnendes Interesse, Ausländer im Inland zu akzeptieren. Andererseits glaubte man an eine schnelle Integration dieser zunächst nur Tolerierten. Die erste Annahme wird durch den hysterischen Zuspruch zu rechtspopulistischen Parteien widerlegt; und die Hoffnung auf Integration, auf die zumindest mittelfristige Annahme westlicher Werte, wurde durch das Abstimmungsverhalten der Auslandstürken bei Erdoğans Referendum jüngst nicht eben genährt. Da hilft auch nicht, dass die Motive der westlichen Eliten humanistisch lauter waren und ökonomisch renditeträchtig. Ebenso wenig fruchten Hinweise, harte Fakten wie Verbrechensstatistiken oder Arbeitslosenquoten stünden vielfach im Widerspruch zu den Vorurteilen und Befürchtungen der Menschen.
Was tun? An einer restriktiven Einwanderungspolitik führt kein Weg vorbei. Oder an einer geordneten: Im Mindesten darf man erwarten, dass der Zuzug nach Europa, nach Österreich quantitativ und qualitativ organisiert wird. Der zu großzügige Umgang mit der Migration mag sympathisch sein und auch verzeihlich, Chaos und Populismus sind es nicht.
Ein abstraktes Thema als Einschub: der Euro. Der Euro wurde aus zwei Gründen eingeführt. Er sollte ökonomisches Wachstum durch geringere Reibungsverluste und größere Stabilität innerhalb des Währungsverbundes produzieren. Darübergelegt wurde zwecks Emotionalisierung eine Eurosophie: die Behauptung, im Netz des gemeinsamen Zahlungsmittels würden die Einzelstaaten zu einer Einheit verschmelzen.
Aus der Tatsache, dass sich die Europäer über Jahrhunderte und zuletzt in zwei Weltkriegen bekämpft hatten, wurde in einigen Hauptstädten des Kontinents eine Gemeinsamkeit konstruiert.
Der zusätzliche Wohlstand hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach eingestellt. Das Zusammenwachsen war freilich nur ein Notprogramm: Weil die gesunden Volkswirtschaften den nekrotischen Mitgliedern wie in einem Blutkreislauf auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, müssen die einen den anderen regelmäßig scheinbar solidarisch zur Seite springen. Die Fehleinschätzung: Politiker und Ökonomen hatten erwartet, die unterschiedlichen Maßzahlen zwischen Athen und Paris, Lissabon und Berlin würden sich zügig angleichen. Vielleicht war das von vornherein makroökonomisch unmöglich. Sicher ist jedoch: Statt die vorgesehenen Instrumente wie Budgetdisziplin und Verschuldungsgrad zu beachten, verlegten sich Griechenland und Konsorten auf Erpressung.
Die Kosten dieser Fehleinschätzung sind gering, die Bilanz unter Einrechnung der Vorteile des Euro ist sogar positiv. Das Restrisiko, ein einzelner Staat könnte den Rest mit in den Abgrund ziehen, bleibt aber gewaltig.
All dem liegt jedoch ein grundsätzlicher Beurteilungsfehler zugrunde: der Glaube an die Ähnlichkeit der europäischen Völker; das Vertrauen darauf, die geografische Nähe bedinge auch eine Übereinstimmung im Denken und Handeln. Der Fehler lag wohl in einer geradezu perversen Fehlinterpretation des Wortes „Schicksalsgemeinschaft“. Aus der Tatsache, dass sich die Europäer über Jahrhunderte und zuletzt in zwei Weltkriegen bekämpft hatten, wurde in einigen Hauptstädten des Kontinents eine Gemeinsamkeit konstruiert. Aus dem gegenseitigen Morden müsse quasi per Naturgesetz wechselseitiges Verstehen erwachsen; das tief sitzende Misstrauen sollte sich über Nacht in bedingungslose Solidarität verwandeln.
Von dieser europäischen Seele in einem europäischen Körper ist heute weniger zu spüren als vor einem halben Jahrhundert.
[email protected] Twitter: @chr_rai
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 17 vom 24.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.