Leitartikel

Christian Rainer: Lässt der Westen die Ukraine fallen?

Wird die Politik dem Druck der öffentlichen Meinung und der ökonomischen Verwerfungen standhalten?

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Am Dienstag der vergangenen Woche schrieb ich eine „Morgenpost“ mit ähnlichem Titel und Vorspann wie die obenstehenden (unser morgendlicher Newsletter ist unter profil.at/newsletter zu bestellen – kostenfreier Journalismus aus der profil-Redaktion). Bloß die Fragezeichen fehlten: „Der Westen wird die Ukraine fallenlassen.“ „Die Politik wird dem Druck der öffentlichen Meinung und der ökonomischen Verwerfungen nicht standhalten.“ Meine Meinung hat sich seither nicht geändert, das vor vier Tagen Geschriebene eher verfestigt. Dazu trug unter anderem die Rede des Bundespräsidenten in Bregenz bei, der dort – irgendwo zwischen nachdrücklich und flehentlich – die Einheit des Westens gegen Russland beschwor und diese damit implizit als gefährdet ausschilderte: „Es ist unerträglich, nur mit dem Gedanken zu spielen, sich zum unterwürfigen Verbündeten eines Diktators zu machen“, sagte Alexander Van der Bellen angesichts der dräuenden Absetzbewegung. Auch Annalena Baerbock wird den Druck der öffentlichen Meinung verspürt haben, als sie ebenfalls Mitte der Woche zu Protokoll gab: „Wenn wir kein Gas mehr bekommen, sind wir mit Volksaufständen beschäftigt.“ (Interessanterweise schlug die deutsche Außenministerin in ihrer Verteidigung der Lieferung einer reparierten Turbine für Nord-Stream 1 dann noch eine gewagte Volte, indem sie argumentierte, Deutschland würde „ohne Gas keine Unterstützung für die Ukraine mehr leisten“ können.) 

Die Nerven sind allseits strapaziert, noch liegen sie nicht blank.

Es wird zu einem faulen Frieden kommen, dessen Konditionen Herr Putin nach Gutdünken diktieren kann.

Warum also mein Titel dieses Mal mit Fragezeichen? Aus taktischen Gründen: So kann ich in marginal abgeänderter Form noch einmal den Gedanken aufgreifen, den ich bereits formuliert hatte. Überdies erscheint es mir sinnvoll, aufgrund der entstandenen Diskussion die geöffnete Variante zu wählen: Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich nämlich die Mühe machen, auf Social Media nachzulesen, welche Richtung die Reaktionen auf jenen Newsletter nahmen, werden Sie verstehen, was ich meine. Zum Teil findet sich bedauernde Zustimmung zu meinem Befund, wonach sich die westliche Solidarität mit der Ukraine früher oder später erschöpfen, die verbale Unterstützung leiser werden würde, die Waffenlieferungen auströpfeln könnten. „Befürchte ich auch“ schreibt etwa @r_seliger auf Twitter. @LederAnita: „Nur Mut, seien Sie keine Memme!“ @SchadenGabriele: „Könnte sein, nur dann gehören die Politiker, die diesen Massenmörder erneut hofieren sollten aber sowas von mit nassen Fetzen davongejagt!“ 

Zum anderen Teil ist Zustimmung zu dieser prognostizierten Entwicklung zu lesen. @DoeblingerInqui: „Stimme zu 100% zu, weil auch alles andere alternativlos ist.“ Oder @Cash_Back_Team: „Je früher Schluss ist, desto mehr Ukraine bleibt übrig.“

Eigenartig (aber was ist auf Twitter schon eigenartig) erschienen mir freilich die aggressiven Antworten bis hin zu Drohungen, als würde jene Erwartungshaltung meine Hoffnung repräsentieren. Zumal ich genau das Gegenteil zum Ausdruck gebracht hatte, zumal ich zynisch resignierend gemeint hatte, schon bald würde Wladimir Putin wieder „ein gern gesehener Staatsgast im Westen sein und in der Wirtschaftskammer auch ein beklatschter“. So tweetete @AlirezaSheiko1: „Wunschdenken und nichts mehr“. @gass: „Putin hat wohl ein paar Artikel bestellt $$$$“ @menora (das ist der sehr umtriebige Herr Ingolf Berger): „Rundheraus gefragt: Wer gibt in Österreich einen solchen Artikel in Auftrag?“ @trimifeda: „Das profil beginnt damit – das ist schändlicher Defätismus.“ Und @NittAlexander: „Klar und den Artikel hat die russische Botschaft beauftragt.“

Ich bleibe jedenfalls dabei: Entweder gewinnt Putin diesen Krieg schnell (was immer er selbst als „gewinnen“ definieren mag) und kommt damit dem Einknicken des Westens zuvor. Oder ein westlicher Politiker nach dem anderen wird ausscheren, weil er dem Druck der Straße nicht widerstehen will. Auch wenn die Umfragen (vor allem im Vorzeigeland Deutschland) noch anderes signalisieren: Die Menschen werden ermattet sein von der eigenen Heldenrolle, die sich bisher noch aus der Solidarität mit den ukrainischen Helden speist. Spätestens die Rezession mit Inflation und Mangelwirtschaft wird die Durchhalteparolen der Volksvertreter zum Verstummen bringen. Die Unternehmer sind da längst einen Schritt weiter: Kammerpräsident Harald Mahrer weiß das Gros seiner Mitglieder hinter sich, wenn er etwas verklausuliert den Rückzug aus den europäischen Positionen fordert.

Russland hat sämtliche militärische Optionen offen, alles andere ist Wunschdenken. Ich fürchte: Es wird zu einem faulen Frieden kommen, dessen Konditionen Herr Putin nach Gutdünken diktieren kann. Und ich fürchte, dass sehr viele Menschen – nicht nur in Österreich – dieses Ergebnis nicht fürchten, sondern darauf hoffen.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.