Christian Rainer: Notverbote

Wer ein Auftrittsverbot oder ein Kopftuchverbot verhängt, gibt klein bei – ein Armutszeugnis für jede Demokratie.

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Wir und die Ausländer? Die Haltung der Österreicher und mit ihnen der österreichischen Eliten hat sich in den vergangenen beiden Jahren in einem bis eben noch unvorstellbaren Ausmaß geändert. Nein, wahrscheinlich hat sich nur die Haltung der Eliten geändert, und das sogenannte Volk, also die Volksseele des Landes, hatte schon längst eine abweichende Sicht der Dinge. In diesem Sinne hat – das sei vom Journalisten selbstkritisch angemerkt – auch das Wort „Volksseele“ eine Wandlung erfahren: vom herablassend geäußerten, abwertenden Terminus hin zu einer Art Fragewort, das mehr über unser Unwissen ausdrückt, als es eine kritisch-hegemoniale Einordnung vornimmt.

Wir erfahren den Paradigmenwechsel allgegenwärtig: Im Frühsommer 2015 etwa, trotz Sonnenscheins und milder Temperaturen, echauffierte sich das Land, weil die – wohlgemerkt – durchreisenden Flüchtlinge in Zelten untergebracht wurden, da es an festen Einrichtungen mangelte. In der Zwischenzeit haben sich unsere Moralkoordinaten so weit verschoben, dass der Diskurs nicht an den Zeltplanen ansetzen würde, sondern bei einer schmallippig formulierten Motivforschung nach den Fluchtgründen der Untergebrachten. Oder auch: Wenn es um die Erosion der Gefängnisse als Resozialisierungseinrichtungen geht, schreibt profil ohne Scham, dass dieses Scheitern durch die explosionsgleiche Vermehrung ausländischer Häftlinge bedingt sei. Und: Wo auch immer statistische Veränderungen im sozialen Gefüge aufpoppen, darf nun ohne Gewissenskonflikt gefragt werden, ob diese Veränderungen mit dem nämlichen Zustrom zu tun haben.

Doch es gibt Grenzen. Diese liegen dort, wo wir unsere Freiheit opfern, weil wir glauben, sie nur so erhalten zu können. Zwei aktuelle Fälle sind das Kopftuchverbot und das Auftrittsverbot für ausländische Politiker. Hier gehen Werte verloren, weil überschnell zu den schärfsten Mitteln in der Verteidigung dieser Werte gegriffen wird, weil ohne Not eine Notwehrsituation angenommen wird.

Ja, es gibt scheinbar gute Gründe für diese Verbote. Selbst wenn wir den Populismusanteil subtrahieren, der die Niederländer im Wahlkampf oder den österreichischen Innenminister im Machtkampf antreibt, bleiben valide Argumente, warum nicht auf inländischem Boden ausländische Politiker ihre Innenpolitik breitwalzen sollen.

Sicherheitsaspekte sind es nicht, ebenso wenig die möglicherweise dubiosen Inhalte, die ein türkisches Regierungsmitglied da vortragen könnte. Doch der Vorhalt, dass hier über die Bande gespielt eine Radikalisierung der österreichischen Gesellschaft stattfinde, ist schon richtig.

Das Mittel des Demokraten wäre es, bei der Ursache anzusetzen.

Aber muss der Gesetzgeber gleich klein beigeben, indem er groß auftrumpft und eine der zentralen Errungenschaften unserer Demokratie, die Redefreiheit, stückelt und rationiert? Er muss nicht, er darf nicht simulieren, dass die Republik am Chaosrande stünde, bloß weil ein Büttenredner seine Zunge schwingt. Das Mittel des Demokraten wäre es, bei der Ursache anzusetzen. Konkret hat es die Politik – nicht beschränkt auf Österreich – offensichtlich verabsäumt, die türkischstämmige Bevölkerung in eine neue Wertewelt zu integrieren, gegen diktatorische Tendenzen in ihrer Heimat zu immunisieren. Noch konkreter hat die Politik und mit ihr die Verwaltung dolos weggeblickt, als es um das Verbot von Doppelstaatsbürgerschaften ging, die den scheinbar eingemeindeten Ausländern das Abstimmen für Erdoğan überhaupt ermöglichen.

Ähnlich streckt sich die Kausalkette beim Kopftuchverbot. Aus feministischer Sicht einerseits ist ein Einwirken gegen das durch Verstecken erniedrigende Kopftuch für muslimische Frauen geboten, die Rede vom Selbstbestimmungsrecht dieser Frauen ist unter dem Aspekt des dadurch verursachten Entzugs dieses Rechtes lächerlich. Aus soziokultureller Sicht andererseits: Es ist ärgerlich, wenn mit diesem Symbol der Unterdrückung auf Schritt und Tritt gewollt, subtil oder ungewollt Propaganda gemacht wird für Staaten wie den Iran und gegen die westlichen Demokratien.

Aber mit Verboten mehr Freiheit erzwingen zu wollen, ist widersinnig, ist ein Armutszeugnis eben dieser Demokratien. Bei seinem Versuch, eine entsprechende Kleiderordnung zumindest im öffentlichen Dienst zu erzwingen, liegt daher auch der Außenminister ganz falsch. Wenn Sebastian Kurz versucht, den „säkularen“ und „dennoch religionsfreundlichen Staat“, ein „Kopftuchverbot“ und „das verfassungsrechtlich abgesicherte Kreuz im Klassenzimmer“ gemeinsam in den Mund zu nehmen, dann hat er diesen zu voll genommen. Auch hier stimmt: Wir sehen Versäumnisse und zugleich Aufgaben der Politik und der Gesellschaft. Wenn Musliminnen stolz ihr Kopftuch tragen, sollten wir darüber – und dagegen – sprechen. Und wenn muslimische Frauen der zweiten oder dritten Generationen noch – und zum Teil wieder – ein Kopftuch tragen, dann ist bei der Integration einiges schiefgelaufen.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 12 vom 20.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.