Leitartikel

Christian Rainer: Rocky Horror Wochenschau

Abschiebung? Rechtmäßig. Koalition? Rächt sich. Lockdown-Ende? Richtig.

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In der Frage der Abschiebung jener georgischen Kinder – rechtmäßig? Gerecht? – zeigt sich die Republik weniger gespalten, als ich vermutet hatte. Abseits eigenbrötlerischer Textmontagen emeritierter Sittenwächter herrscht unter den Publizisten des Landes ein gewisser Grundkonsens darüber, dass der aktuelle Fall schlecht geeignet ist, als Nukleus für eine Revolution des österreichischen Asylrechts zu dienen. Entsprechend kritisch wurde daher die sich (fast stolz) auf mangelnde Detailkenntnis berufende Intervention des Bundespräsidenten gewertet.

Der von mir vermutete Konsens beruht darauf, dass klug zwischen „rechtmäßig“ und „gerecht“ unterschieden wird. Die vielfache Ablehnung des Asylstatus, eine Wiedereinreise mit Touristenvisum, das von vornherein aussichtslose Ansuchen von Migranten mit Herkunftsland Georgien machen es fast unmöglich, das Einzelschicksal jener Kinder als schwer genug zu wiegen, um alle vorangegangenen Entscheidungen auszuhebeln. Ich folge dabei gerne den Worten eines Höchstrichters mit sozialdemokratischer Vergangenheit, der in privater Session zu einem Kollegen meinte: Die Zuerkennung eines humanitären Bleiberechts oder gar des Asylstatus wäre denkbar ungerecht gegenüber all jenen Afghanen, Syrern, Iranern – you name it –, die mit ihren stimmigeren Argumenten, ihrem schlimmeren Schicksal abgewiesen werden. Bloße Beharrlichkeit wider das Gesetz, vielleicht auch eine entsprechende ökonomische Ausstattung sollten keine Besserstellung produzieren.

Von der Rechtmäßigkeit unabhängig ist freilich die Frage der Gerechtigkeit zu sehen: also die moralische Entscheidung darüber, ob unser Umgang mit Zuwanderern dem Grundkonsens im Land, den Anforderungen der Wirtschaft, überdies einem breiter gefassten Zukunftsbild für Österreich entspricht. Meiner Meinung nach nicht. Präzise erfasst und ausgedrückt hat das Theo Haas, der Schulsprecher am Gymnasium, das die abgeschobene Georgierin besuchte. Sinngemäß: Wenn die emotionale Bewertung keine Basis für ein Bleiberecht biete, müssten eben  die Gesetze geändert werden. Richtig. Die NEOS sollten diesen jungen Herrn schnell als großartige Zukunftshoffnung für sich gewinnen, bevor ihn die Türkisen in einem besonders perfiden Manöver kapern.

Für die Koalition mündete jene Abschiebung im längst überfälligen Kräftemessen. Showdown ist es keiner. Meine Kollegin Eva Linsinger stimmt – an dieser Stelle – bereits die ersten Töne eines Abgesangs auf die Zusammenarbeit von Grün und Türkis an. Und in der jüngsten „Runde der ChefredakteurInnen“ auf ORF 3 war ich eher allein mit der Prognose, diese Regierung werde die vollen fünf Jahre abdienen.

Warum „längst überfällig“? Wir hatten vergessen, geblendet von pathosschwangeren Inszenierungen, dass in dieser Regierung ideologische und historische Antipoden zusammenfanden: weil beide Parteien regieren wollten, weil die Alternativen gescheitert, ausgeblutet oder mathematisch nicht darstellbar waren. Aber die Krawatte des Gesundheitsministers und die Krawattenlosigkeit des Bundeskanzlers dürfen uns nicht täuschen: Hier sitzen schicke, ökologisch genordete Fundamentalisten und ins Modische gewendete Anti-Egalitaristen in einem Boot.

Trotz 30 Jahren Erfahrung im politischen Journalismus und aus durchaus neutraler Perspektive ist mir unerklärlich, warum die Grünen seit 13 Monaten lustvoll den Underdog in dieser Regierung geben. Sie besetzen mächtige Ressorts. Sie verfügen über starke Persönlichkeiten als MinisterInnen. Vor allem aber haben sie, anders als die Volkspartei, mit dem Weg in die Opposition eine Daseinsalternative. Entsprechend unverständlich: die grüne Version einer Befriedung des Streites ums Asylrecht. Auf Twitter (@chr_rai)  habe ich das so kommentiert: „Die Grünen brauchen also eine ehemalige NEOS-Abgeordnete und eine Kommission, um ihre Position gegenüber dem Koalitionspartner in der Migrationsfrage unter der verniedlichenden Chiffre Kindeswohl festzulegen. Geht’s noch?!“

Zuletzt: Das Land sperrt auf. Der Lockdown wird ab Montag weniger lock und weniger down. Das ist eine richtige Entscheidung. Einerseits ist es ohnehin lächerlich, von einem Aufsperren zu sprechen. In der Theorie sollte sich das sogenannte Ansteckungsgeschehen jetzt nicht intensivieren: Bei 20 Quadratmetern pro Person im Handel, bei ausnahmslos getesteten Kunden von Friseur & Co, bei testgeschnäuzten Schülern im Schichtbetrieb, bei nächtlicher (in der Praxis wie bisher durch Ausnahmen inexistenter) Ausgangssperre bleiben Ansteckungen freak accidents. Wenn sich die Menschen daran halten und die Polizei endlich ihre Arbeit tut. Andererseits: Falls die Zahlen nach oben gehen, wird nach einer Erholungsphase für den Handel eben wieder zugesperrt. Die Alternative wäre ein kompletter Lockdown bis in den Juli hinein – und damit Schwachsinn – gewesen.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.