Meinung

Der Zorn der Frauen

Wütende Frauen sind in der Popkultur angekommen. Das ist ein politischer Fortschritt.

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Jennifer Walters ist, wie Frauen lange nicht zu sein hatten: Wütend und körperlich haushoch überlegen. Die neue Disney+-Serie "She-Hulk: Die Anwältin" ist, wie der Titel verrät, ein Ableger des Avenger-Superhelden "Hulk". In den Marvel-Filmen spielt Mark Ruffalo den Wissenschafter Bruce Banner, der nach versehentlichem Kontakt mit radioaktivem Material zum grünen Monster mutiert, wann immer er wütend wird.

Jennifer Walters, verkörpert von Tatiana Maslany, ist Bezirksstaatsanwältin in L.A. Nach unbeabsichtigtem Blutkontakt mit ihrem Cousin, dem erwähnten Dr. Banner, wird sie ebenfalls zum grünen Monster mit übermenschlichen Kräften. Ihr Händeklatschen erzeugt einen Überschallknall, Felsbrocken fliegen durch die Luft wie Tennisbälle, Gegner werden durch Wände geschleudert. Doch im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant, das in blinder Wut grunzend Autos durch die Gegend wirft, ist Walters in der Lage, ihren Zorn zu kontrollieren. Anders als Dr. Banner gelingt es ihr rasch, die Verwandlung selbst einzuleiten, wann immer ihr grünes Alter Ego gefragt ist.

Im Iran ist der Zorn der Frauen ein Antrieb zum Befreiungsschlag. 

Mit der Serie ist der Zorn der Frauen endgültig im Mainstream angekommen. Die längste Zeit waren Frauen in der Popkultur auch als Superheldinnen in erster Linie sexy, körperlich überlegene oder gar wütende Frauen höchstens eine Randerscheinung. Das galt lange auch für die Kämpferinnen für Frauenrechte. So nutzten die Suffragetten, die sich vor 100 Jahren in Großbritannien und den Vereinigten Staaten für das Frauenwahlrecht einsetzten, hauptsächlich Formen des passiven Widerstands. Zwar wurden etliche von ihnen in asiatischer Kampfkunst trainiert. Ihre Kenntnisse nutzten sie aber vorrangig dazu, sich auf der Straße gegen prügelnde Männer zu verteidigen. In den vergangenen Jahren hat der Zorn der Frauen auch den realen Kampf gegen Sexismus und für Frauenrechte erreicht. Die #MeToo-Bewegung erwuchs aus der Wut über sexuelle Übergriffe, und beim "Women's March" setzten nach der Amtseinführung Donald Trumps im Jänner 2017 in den USA rund eine Million Frauen ein Zeichen gegen die rassistischen und misogynen Reden des neuen Präsidenten. "Ich bin eine böse Frau", sagte die Schauspielerin Ashley Rudd damals bei ihrer Rede in Washington (in Anspielung auf Trumps Verunglimpfung seiner Konkurrentin Hillary Clinton), "Ich bin eine böse Frau-wie meine Großmütter, die gekämpft haben, damit ich wählen kann. Ich bin böse wie der Kampf für gleiche Löhne. Wir sind hier, um respektiert zu werden. Wir sind hier, um böse zu sein."

Böse sein (engl.: "nasty") und wütend, das scheint Frauen mitunter mehr Gehör zu verschaffen als ruhig vorgetragene Forderungen. Politikerinnen wie die US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez transformieren ihren Zorn und nutzen seine Energie für den Aufbau sinnvoller Argumente. Greta Thunberg setzt sich mit zorniger Miene und scharfen Worten für den Kampf gegen die Erderhitzung ein. Zuletzt haben Frauen im Iran bewiesen, welche Potenziale in ihrer Wut stecken. Dort haben Demonstrantinnen ihren Zorn über staatliche Gewalt gegen Frauen auf die Straßen getragen. Ohne die kollektive Wut wäre der bedingungslose Mut, den diese Frauen beweisen, undenkbar. Zorn ist ein Antrieb, in diesem Fall zum Befreiungsschlag.

Dabei wurde Frauen lange suggeriert, dass sie nicht zornig zu sein haben. Während man die Wut der Männer mit Charakterstärke in Verbindung brachte, wurde der weibliche Zorn gern als Hysterie pathologisiert. In einer Studie haben Psychologen nachgewiesen, dass Probanden deutlich länger brauchen, die Gesichter wütender Frauen als weiblich zu erkennen-oder sie gar für Männer halten. Die "Furie" hat ihre Weiblichkeit verloren, die Wut will nicht zum traditionellen Frauenbild passen.

Deshalb behalten viele Frauen ihren Zorn lieber für sich und reagieren anders auf Frust-etwa mit Trauer. Im Gegensatz zu Trauer oder Angst, die eher lähmt und oft in Erstarrung mündet, ist die Wut ein dynamisches Gefühl und oft der erste Schritt zur Handlungsfähigkeit.

"Jede Frau verfügt über ein gut gefülltes Arsenal an Wut, die sich gegen die persönlichen und institutionellen Unterdrückungen richten kann, die diese Wut hervorgebracht haben", schrieb die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde bereits 1981. "Gezielt eingesetzt, kann die Wut zu einer mächtigen Energiequelle werden, die dem Fortschritt und dem Wandel dient."

Das weiß auch Jennifer Walters. Sie müsse lernen, ihren Zorn zu kontrollieren, erklärt ihr Cousin, der originale Hulk, der ob ihrer Transformation verzweifelten jungen Staatsanwältin in der ersten Folge. Sie habe das längst gelernt, antwortet Walters, sie übe sich jeden Tag in der Kontrolle ihrer Wut-etwa wenn ihr Männer auf der Straße Obszönitäten nachrufen oder ihr der Kollege ungefragt ihre eigene Expertise mansplaint. "Ich bin eine Expertin in Wutkontrolle, weil ich das unendlich öfter machen muss als du!", brüllt sie-und verwandelt sich, getrieben vom Zorn, in den zwei Meter großen She-Hulk.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.