Leitartikel

Die Welt 2024: Hoffen reicht nicht

Wem die Demokratie am Herzen liegt, der wird 2024 etwas mehr tun müssen als wählen und Daumen drücken.

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Das ist der letzte Leitartikel in diesem Jahr, und ich wünschte, ich könnte einen Kommentar mit saisonaler Lebkuchenduftnote und einer wohligen Mischung aus Nochmal-gut-Gegangen und 2024-wird-alles-Besser abliefern, aber leider: nein. Es ist 2023 kaum etwas gut gegangen, dafür vieles katastrophal schlecht. Und die Aussichten für das kommende Jahr? Pfuh.

In der kürzesten Version sieht die Lage so aus: Im Nahen Osten ist die Frage, wie die Terrororganisation Hamas auf Dauer eliminiert und unschädlich gemacht werden kann, trotz eines opferreichen Krieges ungelöst. Der Nahost-Konflikt braucht dringender denn je eine Lösung, aber bisher hat niemand einen Plan vorgelegt. Nicht einmal eine Skizze.

Die Ukraine droht gegenüber den russischen Streitkräften ins Hintertreffen zu geraten, weil die militärische Hilfe aus den USA und die finanzielle Hilfe aus der Europäischen Union versiegen. Bewahrheitet sich dieses Szenario, hat der Westen gegen Russland verloren. Lesen Sie den vorherigen Satz bitte noch einmal.

In Europa gewinnt die Idee, dass Diskriminierung vielleicht doch zulässig und sogar wünschenswert sein könnte, an Boden. In Österreich fordert die FPÖ, die in Umfragen auf Platz eins liegt, „einen Asylstopp, insbesondere für Asylwerber aus muslimischen Ländern“. In den Niederlanden hat mit Geert Wilders ein Politiker die Parlamentswahl gewonnen, der einst seinen Anhängern zurief: „Wollt ihr in dieser Stadt und in den Niederlanden mehr oder weniger Marokkaner?“ (Ich überlasse es Ihrer Fantasie, was die Menge antwortete.)

Alles schläft, einsam rutscht eine Errungenschaft der freien Welt nach der anderen.

Alles schläft? Nicht ganz. Die Populisten krakeelen: Man sollte den Palästinensern die Unterstützungen abdrehen! (Nein. Die Versorgung der Bevölkerung in besetzten Gebieten ist eine völkerrechtliche Pflicht, kein karitativer Akt.) Die Ukraine braucht keine Waffenhilfe, sie soll verhandeln! (So gerät ein freier Staat unter die Kontrolle Moskaus. Ein ungarischer Ministerpräsident sollte wissen, wie sich das anfühlt. Und die Republikaner sollten sich überlegen, wie sie das ihrem Idol Ronald Reagan erklären würden.) Keine Muslime mehr nach Europa! (Das entspringt derselben Denke wie Donald Trumps „Muslim Ban“, der mehrmals von Gerichten aufgehoben wurde.)

Die Krachmacher sind dieselben Leute, die die Freiheit in einer Orbán’- schen Festung verwirklicht sehen; wo möglichst alle Medien denselben regierungsnahen Eigentümer haben und der Staat bestimmt, welches Familienmodell wünschenswert ist. Mit Freiheit hat das rein gar nichts zu tun, allenfalls mit ihrem falschen Freund, der „Freiheitlichkeit“, für die das „F“ in „FPÖ“ steht.

Im Jahr 2024 stehen wichtige Wahlen an – EU, USA, Österreich und viele mehr –, aber die Stimmabgabe allein reicht oft nicht mehr, um Demokratie, Justiz und Verfassung zu schützen. Werden die Populisten laut, müssen auch diejenigen lauter werden, die auf der Seite der Grundrechte stehen. Beispiele dafür gibt es, und das ist – immerhin – eine der wenigen guten Nachrichten, die uns 2023 hinterlässt: Beim „Marsch der Millionen Herzen“ in Polen im Oktober dieses Jahres dröhnte der Satz „Wir haben genug!“ durch Warschaus Straßen. Bei der darauffolgenden Wahl verlor die national-konservative Regierung, die unter anderem ein so rigides Abtreibungsverbot durchgesetzt hatte, dass es den Menschenrechten widerspricht, die Mehrheit. Auch Israels Bürgerinnen und Bürger gingen – vor dem schrecklichen 7. Oktober – immer wieder auf die Straße, um die Regierung Netanjahu daran zu hindern, den Obersten Gerichtshof seiner für die Demokratie essenziellen Funktion zu berauben. So geht politisches Engagement, und dabei handelt es sich nicht um ein staatsbürgerliches Hobby, sondern um Nothilfe für den bedrohten liberalen Rechtsstaat.

Populisten stoßen mit ihren erklärten Zielen an die Grenzen des Völkerrechts, der Verfassungen und der Grundgesetze. Diese nennen sie „das System“ und wollen es bekämpfen, weil es sie daran hindert, Muslime zu diskriminieren, verbotene Praktiken wie Pushbacks zu legalisieren oder unliebsame NGOs zu drangsalieren. Deshalb geriet überall da, wo Rechtspopulisten an die Macht kamen, die Justiz ins Visier.

Die Attacken auf die Grundwerte werden 2024 zunehmen, zahlenmäßig und in ihrer Intensität. In Österreich, in Europa und in den USA. Sie werden von den Rechtspopulisten überschwappen auf andere Parteien und Bewegungen. Gesundheitsminister Rauch sagt im profil-Interview: „Wir werden viele Orbáns bekommen“ – und deutet damit eine Umwälzung an, deren Folgen noch schwer abzuschätzen sind. Ein einziger Orbán kann in der EU ein Veto einlegen. Viele Orbáns – sie heißen Wilders, Le Pen, Kickl oder Weidel – können das liberale Europa zur illiberalen Festung umbauen.

Bloß einmal in die Wahlkabine zu huschen und zu hoffen, dass es nicht so schlimm kommen möge, wird zu wenig sein. 2024 wird anstrengend. Gerade deshalb: Guten Rutsch!

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur