Elfriede Hammerl: Güterabwägung

Leben ist lebensgefährlich. Damit müssen Sie leben. Oder sterben.

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Rechnen Sie lieber nicht damit, dass der Schutz Ihres Lebens dem Staat ein hohes Anliegen ist. Warum sollte er das auch sein?

Weil, erstens: Sterben müss' ma doch alle. Und das Leben ist sowieso lebensgefährlich, damit müssen Sie leben. Oder sterben.

Und zweitens: Alles ist relativ. Manchmal wiegt ein einzelnes Leben halt wenig, wenn die Leben vieler anderer auf dem Spiel stehen. Oder wenn der Wohlstand der vielen anderen auf dem Spiel steht. Oder wenn ein höher bewertetes Leben auf dem Spiel steht.

So tönt es derzeit aus Deutschland.

"Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann ist das in dieser Absolutheit nicht richtig." Sagt Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages, zu den Corona-Beschränkungen. Denn die im deutschen Grundgesetz verankerte Menschenwürde "schließt nicht aus, dass wir sterben müssen". ("Der Tagesspiegel", 26.4.2020)

"Es kann uns niemand davor schützen, dass wir sterben müssen. Es steht auch schon in der Bibel, Psalm 90: 'Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.'" Sagt Margot Käßmann, evangelischlutherische Theologin, Schäuble beipflichtend. (Deutschlandfunk, 29.4.2020)

"Lebensschutz ist nicht absolute Staatsaufgabe. Der demokratische und freiheitliche Staat könnte dies auch gar nicht leisten." Sagt FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. ("Der Tagesspiegel", 29.4.2020)

"Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Sagt Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, und fordert eine Lockerung der Corona-Auflagen. (SWR4 BW Regional, 29.4.2020)

Etwas später erklärt er dann: "Ich habe darauf hingewiesen, dass die Methode unseres Schutzes so schwere Wirtschaftsschäden auslöst, dass deswegen viele Kinder sterben müssen." Also: Güterabwägung ist angesagt. Ganz offensichtlich wird gerade ernsthaft darüber diskutiert, wessen Leben unter welchen Umständen ein wie wertvolles Gut ist.

Man wägt Alte gegen Junge ab, Gesunde gegen Kranke, Freiheit gegen Beschränkungen, Corona-Tote gegen Hungertote. Aber halt: Wo steht, dass diese Vergleiche zwingend notwendig sind?

Was ist eine größere Katastrophe als der Tod Unschuldiger?

Das moralische Dilemma, das hier beschworen wird, ist nur eines, wenn man davon ausgeht, dass die Opferung der einen Menschengruppe das einzige Mittel zur Rettung der anderen ist, wie in dem berühmten Beispiel vom Passagierflugzeug, dessen Abschuss einen Terroranschlag verhindern könnte. (Schäuble wollte solche Abschüsse als deutscher Innenminister 2007 gesetzlich erlauben, scheiterte aber am Bundesverfassungsgericht, das eine Abwägung von Leben gegen Leben für grundgesetzwidrig hielt.) Tatsächlich jedoch ist im Fall der Corona-Krise überhaupt nicht gesagt, dass vorerkrankte Leben abgeschossen werden müssen, damit andere Leben erhalten bleiben. Krankheitsbekämpfung ist kein auswegloses Szenario, in dem Gewalt Gegengewalt diktiert.

Trotzdem fabuliert Theologin Käßmann von einem im Grunde unlösbaren ethischen Konflikt: "Wenn ich einen Angreifer töten muss, um den Angegriffenen zu schützen vor dem Tod, dann bin ich in dem Dilemma: Tue ich es nicht, stirbt der Angegriffene. Tue ich es, werde ich zur Mörderin, und da kommst du nicht schuldfrei heraus, sondern du musst ethisch abwägen, was ist in dem Moment das höhere Gut?"

Die Parallele ist indes keine: Nicht die Kranken sind einander tödliche Bedrohung, sondern der Angreifer ist ein Virus, dessen Vernichtung, wenn sie denn möglich wäre, niemanden zum Mörder machte.

Schäuble wiederum berief sich schon in seiner Auseinandersetzung mit dem deutschen Höchstgericht auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, demzufolge der Tod unschuldiger Menschen zu akzeptieren sei, wenn dadurch eine größere Katastrophe abgewendet werden könne. Aber was ist im Zusammenhang mit Corona eine größere Katastrophe als der Tod Unschuldiger? Der Schaden für die Wirtschaft? Die Verknüpfung von Shutdown und Hungertoten durch die nachfolgende Wirtschaftskrise ist dann bestechend, wenn man davon ausgeht, dass eine nicht durch einen Shutdown behinderte Wirtschaft Hungertote verhindern würde und bisher verhindert hat. Leider waren ihr Hungertote bisher ziemlich egal. Leider hat sie kein System geschaffen, das ein Überleben aller garantiert hat, und wie man befürchten muss, will sie es auch künftig nicht schaffen. Die von Boris Palmer beschworenen Kinder sind durch mehr Corona-Tote nicht davor gefeit, ebenfalls zum Kollateralschaden erbarmungslosen Gewinnstrebens zu werden.

Doch die behauptete Zwangslage zieht. Auch der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, ehemals Mitglied des deutschen Ethikrats, spricht von "begrenzten Ressourcen" und einer beispielsweise notwendigen "Abwägung zwischen der Gesundheitsvorsorge und Zukunftsinvestitionen in das Bildungssystem". Denn: "Niemand hat ein Recht auf unbegrenzte Unterstützung." (MDR Kultur, 29.4.2020)

Leute, was soll das werden? Eine Einstimmung auf "Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Sie in unserem Gesundheitssystem nicht mehr erwünscht sind"? Wir wissen, dass uns der Staat nicht mit Unsterblichkeit ausstatten kann, aber sollte er nicht verhindern wollen, dass unsere Sterblichkeit zu früh ausgereizt wird?

[email protected] www.elfriedehammerl.com