Eva Linsinger: Geisterfahrer unterwegs

Eva Linsinger: Geisterfahrer unterwegs

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Die Erde ist eine Scheibe. Klimawandel gibt es nicht. Geld kommt aus dem Bankomaten. Wenn Sie all das fest glauben, gehören Sie einer obskuren Minderheit an, sind Minister in Trumps Team oder verfügen über jenes unerschütterliche Selbstvertrauen, das stets davon ausgeht, dass alle anderen irren. Doch manche Erkenntnis, die das Gros der Experten vertritt, kann man irgendwann als hinreichend erwiesen erachten. Wenn einem auf der Autobahn Hunderte Fahrzeuge entgegenkommen, ist man in den allermeisten Fällen selbst der Geisterfahrer.

Das gilt auch für die Politik. Zweifeln ist eine fantastische Eigenschaft, gerade für Politiker, deren Jobdescription auch darin besteht, querzudenken, zu hinterfragen und neue Lösungsansätze auszuprobieren. Es besteht immer die theoretische Möglichkeit, dass die anderen auf dem Holzweg sind. Für die heimische Familienpolitik ist diese Variante jedoch auszuschließen: Es darf als hinlänglich erwiesen gelten, dass sie sündteuer, aber weitgehend wirkungslos ist. Wer trotzdem daran festhält, folgt keiner Logik, schon gar keiner finanziellen, sondern beweist nur hartnäckige Bestemmhaltung.

Vom Windelpaket bis zur Familienbeihilfe gibt es ein Mischmasch von über 100 Förderungen. Für Kindergärten bleibt dann leider, leider wenig übrig.

Die bizarre Debatte, ob Finanzmittel für die Kinder von ungarischen Pflegerinnen und Co. gekürzt werden sollen, hätte sich Österreich sparen können – wenn es nicht viel zu lange die Retro-Politik verfolgt hätte, wahllos Geld zu verteilen. Mochten reihum andere Staaten, von Skandinavien über Frankreich bis Deutschland, längst in Kindergärten, Ganztagsschulen und andere Sachleistungen (wie es im Fachsprech heißt) investieren – Österreich setzte unbeirrt auf Direktzahlungen an Familien. Neun Milliarden Euro buttert der Staat jährlich in Familienleistungen; vom Windelpaket bis zur Familienbeihilfe gibt es ein Mischmasch von über 100 Förderungen. Für Kindergärten bleibt dann leider, leider wenig übrig. Direkt an Familien fließt vier Mal so viel Geld wie in Sachleistungen; in anderen Erste-Welt-Staaten ist das Verhältnis umgekehrt.

Im Grunde verfolgt jede Familienförderung drei Ziele: Kinder kosten Geld; zumindest einen Teil davon muss die Allgemeinheit den Eltern abnehmen. Wer will, soll Kinder und Beruf haben können. Nicht zuletzt: eine hohe Geburtenrate. In allen drei Kategorien heimst Österreich routinemäßig die Note „Nicht genügend“ ein. Nachwuchs steht auf der Liste der Armutsrisken weit oben, die Geburtenrate dümpelt im niedrigen Bereich dahin, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie detto. All das ist in Hunderten Metern Studien festgehalten worden und längst nicht mehr nur Feinspitzen des Sozialstaates bekannt.

In manchen Bundesländern und Gemeinden bekommen Familien Geld, wenn sie ihren Nachwuchs nicht in den Kindergarten schicken.

Im Jahr 2014 verkündete Familienministerin Sophie Karmasin mit der wilden Frische der Quereinsteigerin einen „Paradigmenwechsel“ in der Familienpolitik. Die SPÖ applaudierte, doch der versprochene Ausbau der Kinderbetreuung stößt bei renitenten Regionalpolitikern, sturen Gewerkschaftern und anderen innovationsresistenten Blockadeeliten an enge Grenzen. Beispiele gefällig? In manchen Bundesländern und Gemeinden bekommen Familien Geld, wenn sie ihren Nachwuchs nicht in den Kindergarten schicken. In anderen Ländern sind zwei Drittel der Kindergärten nur halbtags geöffnet. Dennoch investieren die Länder von den Kindergartenmillionen des Bundes läppische 0,44 Prozent in längere Öffnungszeiten. Und wie zu Zeiten Maria Theresias, als die Kinder möglichst rasch auf dem heimischen Acker mithelfen sollten, wird der Unterricht bevorzugt in kurze Stundenfolgen gequetscht. Wenn es nach der Mehrheit der Länder und Lehrergewerkschafter geht, wird auch der jüngste Regierungsplan für mehr Ganztagsschulen daran wenig ändern.

Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen, und sie zeitigt erhebliche Konsequenzen. Notwendige Reformen wie flexiblere Arbeitszeiten stocken, weil – erraten! – zu viele Kindergärten und Schulen zu früh zusperren. Zu wenige Kinder schaffen einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern, weil sie zu wenige Stunden in der Schule sind, um gefördert zu werden, zu viele sind dann später arbeitslos. All diese Kausalzusammenhänge sind erwiesen, ein Inländerbonus auf dem Arbeitsmarkt oder weniger Familienbeihilfe für Ausländer ändern daran wenig. Nicht umsonst drängen Institutionen wie die OECD oder die Industriellenvereinigung, die allesamt nicht unter Fantastenverdacht stehen, auf mehr Ganztagsschulen und Kinderbetreuung.

Ja, es ist mühselig und zäh, die hartnäckigen Geisterfahrer in Gewerkschaft, Ländern und Gemeinden davon zu überzeugen, dass eine andere Familienpolitik notwendig wäre. Wettern gegen Geld für Kinder ungarischer Pflegerinnen ist natürlich einfacher.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 9 vom 27.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin