Georg Hoffmann-Ostenhof: So schnell kann es gehen

Georg Hoffmann-Ostenhof: So schnell kann es gehen

Drucken

Schriftgröße

Es mag ein Klischee sein. Aber das in der angelsächsischen Welt geläufige Wort von der „German Angst“ deutet tatsächlich auf eine grundlegende nationale Mentalität hin. Und unter den verschiedenen deutschen Ängsten war in den vergangenen Jahren jene vor der Teuerung die größte und dauerhafteste. Unzählige Artikel erklärten die von Angela Merkel und Co. forcierte Sparpolitik mit der historisch begründeten deutschen „Urangst“ vor der Inflation.

Seit einem Vierteljahrhundert wird jährlich erhoben, wovor sich die modernen Germanen am meisten fürchten. Dieses Jahr ergab die Umfrage Sensationelles. Im Ängste-Ranking ist die Inflationsangst nun plötzlich vom langjährigen Spitzenplatz ins Mittelfeld abgerutscht. „Den Deutschen ist ihre liebste Angst abhandengekommen“, titelt „Die Welt“.

So schnell kann es gehen. Was für eine unveränderliche Mentalität gehalten wird, ist so „ur“ gar nicht. Die Volksseele ist offenbar flexibler, als viele annehmen.

Auch sonst kommt im deutschen Gefühlshaushalt so einiges ins Rutschen. Noch vor Kurzem war man erschrocken, mit welcher Inbrunst die deutsche Öffentlichkeit gegen die „die faulen Griechen“ hetzte, die „unser Geld“ wollen. Von der Renaissance eines deutschen Nationalismus wurde gesprochen. Das Aufkommen der Pegida und die brennenden Asylheime schienen diese Diagnose zu bestätigen. Und dann wurde plötzlich alles anders. Die Generosität und Freundlichkeit, mit der die deutsche Gesellschaft den ins Land strömenden Hunderttausenden Flüchtlingen begegnet, und die vehemente Ablehnung, mit der sie dem rechtsextremen Fremdenhass entgegentritt – all das hat Erstaunen und Bewunderung hervorgerufen. Dies hatte man nicht erwartet.

Die österreichische Gesellschaft, die sich im Zustand fortschreitender „Verstrachung“ zu befinden schien, zeigt plötzlich etwas, was man ihr nicht zugetraut hat: aktiven Anstand.

Auch Angela Merkel hat überrascht. Bisher hat man die Bundeskanzlerin als vorsichtige Politikerin gekannt, die, bevor sie sich für etwas entscheidet, wartet, wohin sich die öffentliche Meinung bewegt – eine Politstil, der in Europa nicht geringen Schaden verursachte. Jetzt zeigt sich Merkel jäh von einer ganz anderen Seite. Sie beeindruckt durch die Vehemenz, mit der sie Ausländerfeindlichkeit verurteilt, durch den politischen Mut, mit dem sie die Bereitschaft bekundet, mehr syrische Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, und durch die Konsequenz, mit der sie auf eine europäische Lösung des so explosiven Migrationsproblems drängt. Geradezu „undeutsch“ erscheint ihr zupackender Optimismus, wenn sie betont, Deutschland könne durchaus die Aufnahme von 800.000 Syrern verkraften, und ruft: „Wir werden das schaffen.“ Faszinierend. Und das in einem Land, das in Normalzeiten eher lamentiert und oft geradenach in die Apokalypse verliebt zu sein scheint.

Bei uns in Österreich verharrt die Mainstream-Politik mit wenigen Ausnahmen (etwa Wiens Bürgermeister Michael Häupl) nach wie vor in Verwirrtheit, Kleingeist und nationaler Borniertheit. Den Ernst der Situation beginnt man nur langsam zu begreifen. Aber siehe da: Die österreichische Gesellschaft, die sich im Zustand fortschreitender „Verstrachung“ zu befinden schien, zeigt plötzlich etwas, was man ihr nicht zugetraut hat: aktiven Anstand.

Zwar wollen die Flüchtlinge nach Deutschland weiterziehen – wie es in Traiskirchen aussieht, hat sich bei ihnen wohl herumgesprochen –, aber das Willkommen, das die österreichische civil society Anfang vergangener Woche Tausenden von ihnen bereitete, hat nicht nur diese im positiven Sinn überwältigt. Und es waren nicht nur die oft als „Gutmenschen“ Denunzierten und die NGOs wie Caritas und Rotes Kreuz, die in den Bahnhöfen den Ankommenden zur Hilfe eilten. Institutionen wie die ÖBB und die Polizei agierten ebenfalls mustergültig: erfrischend unbürokratisch, effektiv und empathisch.

Auch hierzulande ist etwas gekippt. Selbst der Boulevard, der üblicherweise „den Asylanten“ als Bedrohung darstellt, musste umschalten. Nun rühmen die Kleinformate patriotisch das den Flüchtlingen zur Seite stehende Österreich.

Erleben auch wir in Österreich gerade einen Mentalitätswandel? Sind die Feindseligkeit gegenüber „dem Ausländer“ und die Angst vor diesem doch nicht in einem Austro-Gen verankert?

So schnell kann es gehen. Und unser Land, das bisher in der internationalen Öffentlichkeit einen annähernd so miesen Ruf genoss wie etwa das Ungarn von Viktor Orbán heute, wird nun hoch gelobt. Da findet man in der internationalen Österreichberichterstattung der vergangenen Woche sogar euphorische Worte: Am Wiener Westbahnhof „zeigt sich Europa von seiner besten Seite“, schreibt etwa die „Frankfurter Rundschau“, und in der Reportage über die große Anti-Xenophobie-Demo am vergangenen Montag dichtet der Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“: „Die Wiener bringen Österreich an diesem Abend zum Leuchten.“

Erleben auch wir in Österreich gerade einen Mentalitätswandel? Sind die Feindseligkeit gegenüber „dem Ausländer“ und die Angst vor diesem doch nicht in einem Austro-Gen verankert? Als erster Test kann die kommende Wiener Wahl gelten. Sollte Heinz-Christian Strache nicht so gut abschneiden, wie jetzt allgemein angenommen wird, wäre das zumindest ein Anzeichen dafür, dass der momentane Klimawechsel nicht nur akzidenziell ist.

Wirklich nachhaltig wird dieser freilich erst sein, wenn Asyl und Immigration nicht bloß als moralische Frage gesehen werden, sondern sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir ein Einwanderungsland sind, immer schon waren und gerade das die Stärke Österreichs ausmacht.

PS: Etwa acht von zehn Deutschen begreifen inzwischen ihre Heimat als Einwanderungsland und finden das gut so. Von solch einem Bewusstseinsstand sind wir Österreicher weit entfernt. Aber wie gesagt: Es kann schnell gehen.

Georg Hoffmann-Ostenhof