Gernot Bauer: Opferrollen

Kann Sebastian Kurz seinen Wahlsieg noch vergeigen? Und warum ist er links der Mitte noch verhasster als Herbert Kickl?

Drucken

Schriftgröße

Das Band ist breit: „Hackerangriff auf ÖVP – waren es Russen?“, titelte die Zeitung „Österreich“. Über einen „von der ÖVP behaupteten angeblichen Hacker-Angriff“ schrieben dagegen die Grünen in einer Aussendung und befeuerten damit Spekulationen, die mutmaßliche Cyberattacke sei eine türkise Inszenierung gewesen. Im ersten Fall wäre es ein Komplott einer ausländischen Macht, im zweiten ein Komplott der früheren Kanzlerpartei. Über die Hintergründe der Affäre berichtet profil ab Seite 14. Die wesentlichen Fragen: Fand der Hacker-Angriff in der von der ÖVP beschriebenen Intensität und Professionalität auch wirklich statt? Wer steckt dahinter? Wurden Daten nicht nur gestohlen, sondern, wie die ÖVP behauptet, auch manipuliert? Trifft der Bericht der Wiener Stadtzeitung „Falter“ zu, wonach die ÖVP Wahlkampfkosten bewusst falsch verbuchte? Oder stimmt die Behauptung der ÖVP, der „Falter“ sei gefälschten Daten aufgesessen?

Abseits dieser Haupt- bleiben zwei Nebenfragen: Ist es eigentlich vorstellbar, dass Sebastian Kurz seinen programmierten Sieg bei der Nationalratswahl am 29. September noch vergeigt? Und warum ist der Ex-Bundeskanzler links der Mitte offenbar noch verhasster als Herbert Kickl (tausendfach nachzulesen auf Facebook, Twitter, in Parteiaussendungen, Kommentaren, Postings)?

Christian Kern war von Kurz besessen, und viele seiner Wähler ließen sich davon infizieren.

Zur ersten Nebenfrage: Die Pleiten-, Pech- und Pannenserie der ÖVP und ihres Spitzenkandidaten ist evident, von Schredder bis Hacker. Wer den Schaden hat, bekommt den Spott gratis dazu: Warum sollte man das heikle Innenministerium der ÖVP überlassen, die offenbar nicht einmal die eigene Partei-IT schützen kann? Dass die Hacker-Affäre die Wahlchancen der ÖVP real verschlechtert, ist allerdings auszuschließen, außer es gelänge der Nachweis, die ÖVP hätte die Cyberattacke tatsächlich inszeniert. Dann wäre Kurz rücktrittsreif. Ansonsten ist der ÖVP-Chef einmal kein gespieltes, sondern ein echtes Opfer – so wie im Wahlkampf 2017, als Kurz (wie „Presse“ und profil aufdeckten und darob von der SPÖ boykottiert wurden) Ziel des Dirty Campaigning von SPÖ-Berater Tal Silberstein wurde. Letztverantwortlicher war damals SPÖ-Chef Christian Kern. Die Wähler bestraften ihn dafür nicht spürbar. Politische Moral war 2017 kein breitenwirksames Wahlmotiv – und ist es auch heute nicht. Daher werden der ÖVP auch die aufgedeckten Tricksereien bei Parteispenden nicht weiter schaden. Geschenke von Heidi Horten an die ÖVP kümmern die Wähler weniger als Geschenke der ÖVP an die Steuerzahler. Nicht die fremde Marie zählt, sondern die eigene. Vielleicht wandern ein paar Tausend Wähler von der ÖVP zu den Transparenz-affinen Neos. Auf dem Balkan entwickelt sich derweilen eine kleine Flüchtlingskrise, die Sebastian Kurz schon bald zum Wahlkampfthema hochziehen wird. Laut Wahlforschern zählt vor allem der Spitzenkandidat. Und Kurz’ Imagewerte sind unverändert hoch – allerdings nicht in Milieus links der Mitte. Dort ist Kurz teilweise verhasster als Herbert Kickl, obwohl er diesen als Innenminister feuerte und 2017 den Durchmarsch der FPÖ ins Kanzleramt verhinderte.

Warum also? Sieben Begründungen: > Unkeuschheit: Kurz legte sich mit den Freiheitlichen ins Bett, obwohl andere sich dies versagten. > Stolz: Verlorene Macht ist ohnehin schwer zu verdauen, vermeintlich abgeluchste (wie von Kurz 2017) noch schwerer. > Eifersucht: Kickl wirkt in fernen, klar abgegrenzten Wählergruppen rechts außen, Kurz strahlt noch immer in linksliberale Milieus hinein. > Neid: Auch wenn es aus Gründen der politischen Korrektheit nicht thematisiert wird: Für viele Kritiker ist Kurz zu jung und zu unerfahren für das Kanzleramt. Man lehnt ihn ab, wie man KHG ablehnte. > Zorn: Kurz ist ein schwarzer Faymann. Die erfolgreiche Ideologielosigkeit und Boulevard-Geschmeidigkeit des früheren SPÖ-Kanzlers brachte Bürgerliche zur Weißglut. Die gleiche Wut spürt nun die Mittig-Linke. > Trägheit: Ein fast esoterischer Wunsch nach Erneuerung und Überwindung eines teils imaginierten Stillstandes waren die Hauptmotive für Kurz-Wähler. Wer Sebastian Kurz schlagen will, muss einen Weg finden, diese latenten Bedürfnisse zu befriedigen. > Maßlosigkeit: Christian Kern war von Kurz besessen, und viele seiner Wähler ließen sich davon infizieren. Pamela Rendi-Wagner scheint es allmählich zu gelingen, ihre Partei von dieser lähmenden Anti-Kurz-Obsession zu befreien. Kritik an Kurz’ Politik verspricht am Ende mehr Erfolg als Kritik an seiner Person.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.