Gastkommentar

In Vielfalt untätig

Die EU möchte zu hohe Abhängigkeiten von einzelnen Handelspartnern reduzieren. Das ist gleichzeitig ein Bekenntnis zu freiem und fairem Handel. Österreich und andere Länder legen sich aber beim Freihandel quer.

Drucken

Schriftgröße

„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde die Hoffnung für viele. Sie ist heute die Notwendigkeit für alle“, lautet ein prägendes Zitat des ersten deutschen Nachkriegsbundeskanzlers, Konrad Adenauer. In einer Zeit geopolitischer Auseinandersetzungen und militärischer Aggression zeigt sich die Notwendigkeit eines einheitlichen europäischen Auftretens so klar wie schon lange nicht mehr. Aktuell leben rund 5,5 Prozent der Weltbevölkerung in der EU. Der Weltmarktanteil am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2022 rund 15 Prozent. Damit ist die EU nach China (18,5 Prozent) und den USA (15,6 Prozent) die drittgrößte Volkswirtschaft. Europas wirtschaftliche Stärke und Attraktivität liegen im gemeinsamen Binnenmarkt. Während die Mehrheit der Mitgliedsländer für sich genommen international unbedeutend ist, ist der gemeinsame Markt von rund 450 Millionen kaufkräftigen Konsumenten und Konsumentinnen ein interessanter Wirtschafts- und Handelspartner.

Doch Europa genügt sich zu oft allein. Während China und die USA ihre geopolitischen Ziele klar formulieren und konsequent verfolgen, verfällt die europäische Außenwirtschaftspolitik in vielen Bereichen in einen Dornröschenschlaf. Die EU hat sich mit dem Konzept der „offenen strategische Autonomie“ im Jahr 2021 eine neue handelspolitische Strategie gegeben, die grundsätzlich in der Lage sein kann, Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu geben. So möchte man zukünftig in strategisch relevanten Bereichen die Abhängigkeit von einzelnen Handelspartnern und damit das geopolitische Bedrohungspotenzial reduzieren. Gleichzeitig vertritt diese Strategie ein Bekenntnis zu freiem und fairem internationalen Handel. Eine handelspolitische Agenda, die zur Diversifikation von strategisch wichtigen Vorleistungsimporten bei gleichzeitiger Berücksichtigung europäischer Interessen beitragen kann, lässt sich mit diesem Konzept in Einklang bringen.

In der konkreten politischen Umsetzung stößt dieses Konzept jedoch regelmäßig an seine Grenzen. Die Handelspolitik liegt in der ausschließlichen Kompetenz der EU. Rechtsvorschriften werden auf Basis des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit qualifizierter Mehrheit im Rat und zumeist einfacher Mehrheit im EU-Parlament gefällt. Dieses Verfahren funktioniert relativ gut und zeitlich effizient. So ratifizierte die EU etwa die Handelsabkommen mit Japan und Vietnam in den Jahren 2019 und 2020 auf Basis dieses Gesetzgebungsverfahrens.

Während China und die USA ihre geopolitischen Ziele konsequent verfolgen, verfällt die europäische Außenwirtschaftspolitik in  einen Dornröschenschlaf. 

Eine Vielzahl außenwirtschaftlicher Vereinbarungen berührt jedoch auch nationalstaatliche Kompetenzen. In solchen Fällen kann die Einstimmigkeit im Rat beziehungsweise eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten notwendig werden. Das CETA-Abkommen mit Kanada geht etwa über reine handelspolitische Aspekte hinaus. Die praktische Folge: Das Abkommen wird seit September 2017 ausschließlich in Bezug auf dessen handelspolitische Kapitel vorläufig angewendet. Vollständig ratifiziert wird es auch sechs Jahre danach nicht sein. Dem Handelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten droht ein noch weiterreichendes Schicksal. Durch das aufrechte und maßgeblich innenpolitisch motivierte Veto Österreichs kann es erst gar nicht in Kraft treten.

Ähnliches gilt für die innereuropäische Weiterentwicklung des Binnenmarkts. Hier blockiert Österreich etwa den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens, zwei Volkswirtschaften, in denen österreichische Unternehmen durch Direktinvestitionen stark engagiert sind und aus denen dringend benötigte Fachkräfte vor allem im Pflegebereich zu uns kommen. Im Zuge der EU-Wahlen in elf Monaten wird wieder viel über die Aufgabenteilung zwischen der EU und den Mitgliedsländern diskutiert werden. Eine institutionelle Reform, die die EU in ihre Außenwirtschaftspolitik schneller und effektiver machen könnte, ist allerdings nicht in Sicht. Und somit wird aus „in Vielfalt geeint“ zunehmend „in Vielfalt untätig“.

Harald Oberhofer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und forscht am WIFO.