Meinung

Hetzt die Utopisten!

Wer Visionen hat, braucht nicht nur einen Arzt, sondern auch einen Tritt in den Hintern. Transformation ist Arbeit im Hier und Jetzt.

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Dem Altbundeskanzler Franz Vranitzky wurde einst ein Satz zugeschrieben, den er sich angeblich bei seinem deutschen Amtskollegen Helmut Schmidt ausgeliehen haben soll: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Nun konnten sich, daraufhin angesprochen, weder Vranitzky noch Schmidt erinnern, das jemals so oder ähnlich gesagt zu haben. Aber was soll’s. Das ist schließlich beim eigentlichen Gegenstand des Bonmots, der Vision, ja auch so. Als perfekte Phrase des Politischen lebt die Vision davon, dass sie sich morgen nicht dran erinnern kann, was sie gestern versprochen hat. Politisch korrekt ist das natürlich nicht.

Was soll man denn in Zeiten so radikal veränderter Wahrheiten sonst haben als Visionen? Braucht die Transformation nicht dringend eine Utopie? Ja, sind nicht Utopien und Visionen geradezu die Voraussetzung dafür, dass sich auf dieser Welt was zum Besseren ändert? Nein, im Gegenteil. Visionen und Utopien sorgen eigentlich von jeher eher dafür, dass man die Arbeit heute liegen lässt und nach hinten verschiebt. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute, die immer „ganz entspannt im Hier und Jetzt“ sind, wie ein Bestseller der Hippie-Bewegung hieß. Leute, für die heute immer Ruhetag ist. Die Zukunftsvisionen und Utopien haben genau diesen Sinn: Arbeit zu vermeiden, Anstrengung, echte Analyse und damit auch die Voraussetzung für Veränderung. Die Arbeit tut sich aber nicht allein. Erst recht nicht die Arbeit, die wir brauchen, die nicht mehr im einfachen Nachmachen besteht, sondern das Ergebnis von Nachdenken ist. Vor der Innovation kommt die Inventur, die Bestandsaufnahme, in der wir uns und unsere Beziehungen mit nüchternen Augen sehen, wie es schon der alte Karl Marx empfahl und von seinen Epigonen bis heute hartnäckigignoriert wird. Nüchternes Betrachten der Wirklichkeit bedeutet, dass ich mit den Betriebsmitteln auskomme, die ich heute habe, mit den Menschen, mit den Ideen, die da sind, und mir nicht einrede, dass all das wie durch ein Wunder verschwindet. Erst wenn man sich keine Illusionen mehr macht und damit keine Visionen und Utopien mehr schiebt, ist man auf der halbwegs sicheren Seite. Dann wird gearbeitet statt geredet.

Nicht, dass Faulheit grundsätzlich schlecht ist. Wirklich faule Leute denken meistens gründlich nach, wie sie sich ihr Leben verbessern können. Dem verdanken wir eine ganze Menge. Fast alle Fortschritte in der Menschheitsgeschichte sind dem Drang zur Bequemlichkeit zu verdanken. Deshalb durchforsten wir Physik und Chemie und alle Naturgesetze, haben Räder und Hebel in Gebrauch, Rolltreppen und Aufzüge, Flugzeuge, Züge und Autos und vieles andere mehr. Kaum etwas davon war das Produkt von Visionären und Utopisten, die übermorgen machen wollen, was ihnen heute zu schwer ist, sondern von kreativen Machern, die ein Problem lösen wollen, statt es sich in ihm gemütlich einzurichten. Die Utopisten redeten unterdessen und risikofrei, weil sich an ihr Geschwätz von heute Morgen sicher niemand erinnern konnte oder wollte. Wer es nicht glaubt, möge sich einmal die Visionen und Utopien der Parteien und Konzerne und Interessensverbände zusammengoogeln. Für jede Vision, die in den letzten 30 Jahren nachweislich umgesetzt wurde und Nutzen stiftet, gibt es von mir ein kleines Eis oder ein Pixi-Heftl. Es wird sich im Rahmen halten. Domani, domani – die Absage an die Ins-Morgen-Verschieber heißt nicht, dass alles gut ist, im Gegenteil. Weil vieles im Argen liegt, sollten wir den Hintern hochkriegen und was tun, uns anstrengen und einen nüchternen Blick aufsetzen, was wir ganz persönlich dazu beitragen können, dass diese Welt besser wird – und zwar nicht blumig allgemein, sondern praktisch konkret, und zwar so, dass nicht wieder einmal die, die eh schon nix haben oder wenig, auf das auch noch verzichten sollen. Transformation bedeutet Zugewinn, mehr vom Guten und Besseren, und eben nicht dieses hohle ‚Weniger ist Mehr‘, das alle Leute immer sagen, denen nix einfällt, die Utopisten also. An diesem Beispiel wird vielleicht auch deutlich, dass es heute viele Utopisten gibt, im Sinne von Antirealisten. Wer nur zuschaut und wartet, dass andere den Job der Veränderung erledigen, gehört genau zu dieser Klasse. Sitzenbleiben ist reaktionär, ganz gleich, ob es nun ums Klima geht oder um eine bessere Organisation, die zwar mehr Selbstverantwortung fordert, aber auch viel mehr Freiräume und Selbstbestimmung bringt. Das war mal ein wichtiges politisches Ziel der Leute, die sich selbst progressiv nannten. Das wäre auch die richtige Einstellung für alle, die Transformation wollen. Fortschritt heißt, sich erst hinzulegen, wenn man die Arbeit gemacht hat. Alles andere ist Betrug, vor allen Dingen gegen sich selber.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.