Kolumne

Die Olympiade des Leidens

Die Intersektionalität und der entzauberte Sozialismus: von linken Dämmerzuständen und dem Verliebtsein in die eigenen Ketten.

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Der wesentliche Unterschied zwischen Karl Marx’ Zeit und der heutigen liegt nicht im grundlegenden Problem der Gesellschaft (nämlich der widersprüchlichen Wertform zwischen Lohn und Kapital), sondern in den sozialen und politischen Konflikten. Der Begriff „Klasse“ ist zu einer passiven, objektiven Kategorie degradiert; was hingegen in die heiße Phase getreten ist, ist der Zoff um kulturelle Identitäten und ethnische Konflikte. Identity politics – bummzack.

Die derzeit medial am weitesten verbreiteten links-liberalen Diskurse liegen im Fahrwasser der Intersektionalität. Das ist prinzipiell eine interessante Agenda, die beschreibt, wie verschiedene Arten von Diskriminierung, zum Beispiel Rassismus und Sexismus, sich überlappen und interagieren können, und betont, dass die sozialen Identitäten und Erfahrungen von Individuen durch mehrere, miteinander verknüpfte Unterdrückungssysteme geformt werden. Die Praxis birgt aber leider oft eine diskursive Verknappung. Ein Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm „Feminism WTF“ von Katharina Mückstein, der eine pastellige Wohlfühlorgie des (intersektionalen) Feminismus präsentiert, aber andere Ansätze – wie etwa Radikalfeminismus oder auch sex positivity – unter den Teppich kehrt und teils schwurbelige Aussagen verbreitet, etwa dass das britische Empire die Schwulenfeindlichkeit in Indien entfacht hätte. Oder so.

Die Unterdrückten verwenden ihre Ketten als Prügel gegeneinander.

Intersektionalität kristallisiert oft in einer „Essenzialisierung“ bestimmter Gruppen durch feste, allgemeingültige und hierarchisch geordnete Kategorien der Unterdrückung. Kritiker:innen sagen, dass ihre praktische Anwendung als eine Art Kastensystem bewertet werden kann, das auf historischem Leid basiert. Es besteht die Gefahr, dass die Betonung von immer mehr spezifischen Identitäten und Diskriminierungserfahrungen eine Olympiade des Leidens erzeugt, bei der Menschen um die Anerkennung ihres spezifischen Leidens konkurrieren. Ein Phänomen, das sich täglich in gang fights auf Twitter entlädt; da wird die eher uninteressante politische Meinung von J.K. Rowling zur chromosomenbasierten Toilettentrennung schnell „faschistisch“ – ein Adjektiv, das ich mir eher für andere Dinge aufheben würde. Solche Aufwühlungen zeigen, wie wir uns wohlmeinend in manichäische Sichtweisen zwingen, die Menschen in Opfer und Täter:innen unterteilen. Die Debatten werden dann, ironischerweise, schnell sehr binär.

Die französische Politologin Emilia Roig weist darauf hin, dass Identitäten sozial, historisch und politisch konstruiert sind, also keineswegs essentialistisch, und betont, dass Diskriminierung auch Personen betreffen kann, die normalerweise nicht als „diskriminiert“ betrachtet werden, zum Beispiel behinderte Männer. Wir könnten so weit gehen, zu sagen, dass das Konzept zu einem Wettbewerb um die größtmögliche Benachteiligung führen kann und ihm dabei ein ausgefeilter Machtbegriff auf der Mikroebene fehlt.

Solche Konflikte und die beteiligten Akteur:innen können nicht mehr im Kontext von Klassen verstanden werden. Sie lassen sich weder darauf zurückführen noch als eine kurzfristige Abweichung vom eigentlichen Klasseninteresse betrachten, das sich letztendlich durchsetzen würde. Es besteht die starke Gefahr, dass wir uns aus Furcht vor class reductionism ganz von der Klassenanalyse verabschieden; dass wir denken, dass der Staat nicht mehr klar als Form der Herrschaft definiert werden kann (was er zweifellos ist), sondern nur noch als ein Forum für pluralistischen Wettbewerb. Als linke Zecke sag ich da: verdammt slippery slope. Der Staat ist keine neutrale Arena, der über den sozialen Klassen steht.

Die Unterdrückten haben nicht mehr „nichts zu verlieren außer ihre Ketten“, vielmehr verwenden die Massen ihre Ketten als Prügel gegeneinander. Im Hintergrund, unterschwellig und allumfassend, setzt sich der Kapitalismus fort. Doch er wird nicht mehr erkannt. Ganz im Gegenteil: Konzerne werden abgefeiert, weil sie im „Pride Month“ ihre Websites in Regenbogenfarben tauchen. Die anarchoqueere Gruppe bx in Seattle sagt dazu: „Fight your boss, even though he’s gay.“

Politik ist auch immer eine Frage der Universalität. Wenn Menschen sich nur noch über ihre subjektive Wahrnehmung definieren, dann wird es schnell reaktionär. Es wird auch schwierig, genügend Gemeinsamkeiten zu finden, um solidarische Bewegungen zu formen: ein Kernproblem der Gegenwartslinken. Die Idee des Sozialismus – einer Gesellschaft, die sich selbst treu bleibt – wurde entzaubert, und mit ihm verschwand das Versprechen von Freiheit in der modernen Gesellschaft. An seine Stelle traten konkurrierende Vorstellungen von Gerechtigkeit, die sich oft an alten Werten orientieren. Da jedoch die Quellen dieser Werte, wie zum Beispiel Religionen, im Konflikt miteinander stehen, deutet dieser Kampf um Gerechtigkeit nicht auf eine umfassende Transformation der Gesellschaft hin, sondern auf ein endloses Gerangel. Die Menschen klammern sich an ihre Schwächen, an ihre Ketten, zelebrieren sie gar, weil sie das Einzige sind, was sie kennen.

Johannes  Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner ist Gründer des Kunst-Kollektivs monochrom und schreibt als Karenzvertretung von Ingrid Brodnig.