Kolumne

Stolperdraht

Der Wettbewerb um die Plätze an höheren Schulen wird immer erbarmungsloser.

Drucken

Schriftgröße

Jetzt hat das Kind die Volksschule hinter sich. Blöderweise mit einem Zweier im Abgangszeugnis. Kein Unglück, sollte man meinen. War aber doch eins. Denn die beiden höheren Schulen in der Kleinstadt, in der das Kind wohnt, nehmen nur Schülerinnen und Schüler mit lauter Einsern auf. Das mag vielleicht vom Gesetz nicht so vorgesehen sein, in der Praxis spielt es sich jedoch so ab. Die höheren Schulen wählen aus, denn die Zahl der Plätze, die sie bieten können, ist begrenzt. Und der Wettbewerb darum nimmt immer erbarmungslosere Formen an. Ein Dreier im Volksschulzeugnis der dritten Klasse – schon ist die weitere Schulkarriere infrage gestellt.

„Aber wieso?“, fragte die konsternierte Mutter die Volksschullehrerin des Kindes. „Er liest doch gar nicht so schlecht!“

„Nein, aber er könnte besser lesen!“, sagte die Lehrerin.

Wahrscheinlich hat sie recht. Nur: Ist das ein ausreichender Grund, um das Kind von einer höheren Schule fernzuhalten? Welche Bildungsschätze müssen vor dem Zugriff Zehnjähriger geschützt werden, die nicht ganz so flüssig lesen, wie sie das nach Meinung einer einzelnen Lehrperson können sollten?

Volksschullehrerin und Volksschullehrer: gottgleiche Gestalten, die über die Zukunft Zehnjähriger entscheiden.

Ich Bachelor, du titellos. Was glaubst du, wer den Kaffee holt?

Das alte Problem, die frühe Selektion. Statt Kinder möglichst lange mitzunehmen auf einen möglichst umfangreichen Bildungsweg: Stolperdrähte. Barrieren. Du schon, du nicht.

Wer an dieser Stelle sagt: Es muss doch nicht jeder studieren! oder: Handwerk hat goldenen Boden!, der oder die hat nicht erfasst, worum es geht. Die frühe Selektion schert sich nämlich einen Dreck darum, welche Talente Kinder später entwickeln werden, sie schneidet viele einfach vom Wissenserwerb ab, lange, bevor ihre Stärken oder Schwächen sich erkennbar herausgebildet haben. Sie dient nicht einer differenzierten Förderung, sondern nur einer Gesellschaftsordnung, die zwischen höherer und niederer Bildung unterscheidet, um ausreichend Nachwuchskräfte für niedere Dienste zu rekrutieren. Zumindest ist das die Absicht. Dass sich in der Praxis trotzdem niemand um die niederen Dienste reißt, lässt die Privilegierten gern um Moral und Anstand fürchten, aber das ist ein anderes Kapitel.

Natürlich müssen nicht alle studieren. Die mittlerweile inflationäre Akademisierung auch banaler Kenntnisse ist tatsächlich fragwürdig, sie nützt dem Arbeitsmarkt wenig, aber sie zeigt, worum es bei der Verteilung von Bildungschancen geht, nämlich darum, ob jemand später einmal Anspruch auf eine Führungsposition erheben dürfen soll. Bildung wird nicht als Horizonterweiterung und geistige Bereicherung verstanden, sondern als Kastenkennzeichen. Ich Bachelor, du titellos. Was glaubst du, wer den Kaffee holt?

Der Begriff Kaste wird hier mit Bedacht verwendet. Denn das ist der Sinn der frühen Stolperdrähte: Sie sollen dafür sorgen, dass sich die Schichten nicht allzu sehr vermischen.

Das eingangs genannte Kind hat Glück. Seine Eltern haben eine höhere Schule gefunden, die es trotz eines Zweiers in Deutsch aufnimmt. Sie befindet sich allerdings in einer Nachbargemeinde, aber die Mutter wird das Kind halt zur Schule fahren und abholen, solange es mit den öffentlichen Verbindungen nicht besser klappt. Das werden eventuell acht Jahre mühsamer Fahrdienst. Na und? Wenn es der Zukunft des Kindes dient?

Genau. Am Vorhandensein einer Mutter, die bereit und in der Lage ist, dem schulischen Fortkommen des Kindes absolute Priorität einzuräumen, zeigt sich, dass das Kind berechtigterweise ja doch zur Kaste der höheren Schüler:innen gezählt werden darf.

Wäre die Mutter freilich als Fahrerin nicht verfügbar oder würden sich die Eltern, unsicher und autoritätsgläubig, dem Urteil der Volksschullehrerin beugen, hätte das Kind Pech gehabt. So viel zu der immer wieder für Verblüffung sorgenden Behauptung, dass sich Bildung hierzulande vererbt.

Also, nochmals von vorn: Ein Kind ist zehn Jahre alt und liest nach vier Schuljahren nicht so schnell oder flüssig oder fehlerlos wie sechs andere in seiner Klasse, die besser lesen. Was erkennen wir daraus? Dass das Kind nicht begreifen wird, was ein Logarithmus ist? Dass es sinnlos ist, ihm Spanisch beibringen zu wollen? Dass man es besser nie mit philosophischen Fragen konfrontiert? Das alles lässt sich jetzt schon mühelos vorhersehen und voraussagen? Eben nicht.

Die Krux liegt darin, dass unser Bildungssystem nicht darauf aus ist, Fähigkeiten heranzubilden, sondern Kindern nachzuweisen, worin sie unfähig sind. Es zeigt ihnen nicht, was sie können, sondern was sie nicht können. Es entmutigt, statt zu ermutigen.

Ich gebe zu, die permanente Bestärkung, die Helikoptereltern ihrem Nachwuchs angedeihen lassen, kann durchaus nerven. Kritik ist zumutbar, und ein realistischer Blick auf die eigene Leistung schadet nicht. Aber darf man Zehnjährigen gleich die Zukunft verbauen, wenn ihre Leistung einem bestimmten Standard nicht entspricht?

Das nämlich ist es, was das frühe Herausfiltern vermeintlicher Eliten bewirkt: Es beschränkt, blockiert und verbaut Lebenswege.